Ein Orakel namens Joseph Brodsky.
Über das Gedicht «Anmerkungen eines Farns»
(«Примечания папоротника», 1989)
Joseph Brodskys letzter Gedichtband «Landschaft mit Hochwasser» («Пейзаж с наводнением», postum 1996) lässt sich gleichsam als Testament lesen. Der Gestus des «zuletzt vor dem Tod geschriebenen Textes» ist diesem Dichter ohnehin eigen. Brodsky war ein eigentümlicher Totenpoet in seinen frühesten Schaffensjahren — von «Ein Judenfriedhof bei Leningrad» bis «Große Elegie für John Donne» — und er sollte es in den Jahren vor seinem Tod wieder werden durch die nüchterne Ankündigung seines Ablebens, durch testamentähnliche Texte. Es sind Einübungen in die Sterblichkeit — mit dem Blick auf die Unsterblichkeit.
Ein Gedicht trägt den rätselhaften Titel «Anmerkungen eines Farns» («Примечания папоротника») und stammt aus dem Jahr 1989:
Hier meine deutsche Übertragung, aus dem Band «Brief in die Oase», den ich zum 10. Todestag Joseph Brodskys 2006 herausgegeben habe:
Worum das geheimnisvolle Gedicht kreist, wird in der 2. Strophe explizit: das Orakel. Um Zukunftsdeutung geht es hier, um die seit Urzeiten von den Völkern praktizierte Mantik, die Wahrsage — und Seherkunst. Und auch der mysteriöse Farn im Titel weist in dieselbe Richtung.
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Farne sind lebende Fossile, die sich seit Hunderten von Millionen Jahren kaum verändert haben. Sie zählen zu den ältesten Pflanzen auf der Erde, waren im Karbon vor 350 Millionen Jahren die vorherrschende Landpflanze. Farne blühen nicht, bilden weder Samen noch Früchte, weshalb sie dem Menschen jahrtausendelang ein Rätsel waren.
Ein Kraut, das nicht blüht und sich trotzdem vermehrt? Die Menschen umgaben diese Pflanze seit je mit einer geheimnisvollen Aura, ihr wurden übematiirliche Kräfte zugeschrieben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts lüftete der deutsche Botaniker Wilhelm Hofmeister (1824–1877) das Geheimnis der kleinen braunen Punkte auf der Unterseite der Farnwedel. Es sind Sporenkapseln, die bei trockenem Wetter aufreißen und die Sporen herausschleudem.
In der Geschichte des Aberglaubens schrieb der Farn ein gewichtiges Kapitel. Die Menschen glaubten, der Farn blühe nur in der Johannisnacht (24. Juni), der Nacht der Sommersonnenwende (Iwan Kupala bei den Slawen), die ohnehin ein Zeitraum für Magie und sonderbare Rituale war. Wem es in dieser Nacht gelang, den «Farnsamen» einzuholen, der gewann übematiirliche Zauberkräfte. Farn sollte unverwundbar machen, vor Blitz und Hagel schützen, Dämonen und Hexen fernhalten. Als Glücksbringer im Spiel und in der Liebe gait er, im Geldbeutel sorgte er dafür, dass dieser nie leer wurde, er verhalf zu Wohlstand und Reichtum. Mit Hilfe dieses (vermeintlichen, fiktiven) «Farnsamens» konnte man die Tiersprache verstehen, verborgene Schätze finden, sich unsichtbar machen. Shakespeare spielt in «Henry IV» (1. Teil, 2. Akt, 1. Szene) auf diesen Volksglauben an: «We have the receipt of fern-seed, we walk invisible».
Die giftigen Farne waren berüchtigtes Hexenkraut. Der Aberglaube um sie war so groß, dass Herzog Maximilian I. von Bayern im Jahre 1611 und das Konzil von Ferrara 1612 das Einholen von «Farnsamen» unter Strafe stellten. Im «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens» hat der Farn reiche Spuren hinterlassen, und Jacob Grimm schreibt in seiner «Deutschen Mythologie» (II, 1012 f.):
…wer farnsamen holen will, muss keck sein und den teufel zwingen können. Man geht ihm auf Johannisnacht nach vor tagesanbruch, zündet ein feuer und legt tücher oder breite blätter unter das farnkraut, dann kann man seinen samen aufheben. Manche heften blühendes farnkraut über die hausthüre, dann geht alles gut… der farnsamen macht unsichtbar, ist aber schwer zu finden, denn nur in der mittsommemacht von zwölf bis eins reift er, und fällt dann gleich ab und ist verschwunden.
Bei diesem starken Bezug zur Magie erstaunt es nicht, dass Farnwedel bei Kelten, Angelsachsen und Slawen auch zur Zukunftsdeutung herangezogen wurden — allerdings in schriftloser Zeit, weshalb uns die Details der Deutung ein Rätsel bleiben müssen. Anhand der feinen Verästelungen, Kräuselungen, bizarren schneckenartigen Blatt-Einrollungen des Farnkrautes versuchten Druiden und Schamanen, Heiler und Hexer die Geheimnisse der Zukunft zu enthtillen. Das geheime mathematische Potential des Famkrauts wird sich sehr viel spater, nämlich in unserer Zeit, in Benoit Mandelbrots «Chaostheorie» wiederfmden.
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Das Zauberkraut des Farns macht also unsichtbar, und unsichtbar bleibt in Brodskys Gedicht das Farn-Motiv nach seiner Erwähnung im Titel. Doch der Gedichttext umspielt, ironisiert und parodiert Orakelsprüche und alte Praktiken der Weissagung. Seien es simple Bauern — oder Wetterregeln (Anfang 2. Strophe), sei es die traditionell von Zigeunern praktizierte Handlesekunst, die Chiromantie (Übergang 4. / 5. Strophe), sei es eine alttestamentarische Weissagung, das Menetekel auf der Wand beim letzten babylonischen König Belsazar (3. Strophe), das beim Propheten Daniel (5, 25–30) geschildert wird. Auf die babylonische Praxis des Sterndeutens, die Kunst der Chaldäer, wird in der 7. Strophe angespielt: «Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leider abgeschafft ist…»
Selbst das alte griechische Orakel in Delphi, das aus der Stimme brach, aus der Stimme der auf dem Dreifuß über einer Erdspalte sitzenden Pythia, ist präsent in der parodistischen Version der «zarten Freundin» der 1. Strophe, in deren Stimme vorausklingt, dass das Ende der Liebe kommen wird, dass ein Rivale da ist. Delphi als Hauptort des Orakels: Brodsky wird seiner eigenen freien Übersetzung des Gedichtes ins Englische den Titel «North of Delphi» geben. Auch die Sibylle ist allem zuvor Stimmgewalt, die Räume und Zeiten durchdringt und überspringt, wie es uns ein Fragment des Heraklit von Ephesos nahelegt:
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Ob als verballhomtes Delphi-Orakel, ob als babylonisches Stemdeuten oder biblisches Menetekel, ob als Bauern — und Wetterregel, als zigeunerische Handlesekunst oder urtümliche Deutung der Verästelungen des Farnkrauts: Der allgemein-menschliche — und hilflose — Versuch einer Zukunftsvorhersage, der bei zahllosen Völkern beharrlich unternommen wurde, bezeichnet das zentrale Geschehen in diesem Brodsky-Gedicht, auch wenn der postmoderne Dichtersich dem Gegenstand ironisch-parodistisch nähert.
Der Dichter selber ist das archaische «Farnkraut», das hier seine «Anmerkungen zur Zukunft» macht. Er ist selber ein Instrument der Zukunftsdeutung, ein später Vertreter der alttestamentarischen Propheten, auch wenn er die hehre Instanz noch so parodistisch bricht. Damit wird ebenso der Ursprung der Poesie aus der Magie, aus den Zaubersprüchen beschworen wie die uralte Verbindung von Poesie und Orakel. Der Gott der Poesie und der Gott des Orakels ist ein und derselbe: Apollon.
Dieses «Farnkraut» namens Brodsky kennt das Resultat aller Zukunft von allem Anfang an, wenn er die Verfahren der Mantik ironisch bis sarkastisch einander ablösen lässt. Er kennt die «Perspektive», die auch in anderen Gedichten der Spätzeit Brodskys aufblitzt, das Ziel und Ende eines jeden Menschenlebens: Du wirst sterben. In der leicht saloppen Version der 3. Strophe: «Der Helle hat / überall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeld / kippt. Und hört er eine Glocke an sein Hörorgan flitzen / so schlägt die ihm: man säuft man sticht man gibt den Teller ab» («Человеку всюду / мнится та перспектива, в которой он / пропадает из виду. И если он слышит звон, / то звонят по нему: пьют, бьют и сдают посуду»).
Dass diese Perspektive universal gültig ist, besagt gerade das verschlüsselte Zitat der Totenglocke, die bei einem von Brodskys Lieblings-dichtem auftaucht — bei dem «metaphysical poet» John Donne (1572–1631), den er nicht nur in der «Großen Elegie für John Donne» von 1963 würdigte, sondern auch ins Russische übersetzte. Im Anhang zu seinem ersten autorisierten Gedichtband «Haltestelle in der Wüste» («Остановка в пустыне», New York, 1970) finden sich vier Übertragungen von Gedichten John Donnes.
Das Zitat der Totenglocke, das schon Hemingway für den Titel seines Romans «For Whom the Bell Tolls» («Wem die Stunde schlägt») sich aneignete, findet sich in der 17. Andacht des 1623 entstandenen Andachtbuches «Devotions» von John Donne:
No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the Continent, a part of the Main; if a clod be washed away by the Sea, Europe is the less, as well a Promontory were, as well as if a Manor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankind; And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.
Kein Mensch ist eine Insel, ein Ganzes in sich selbst; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil der weiten Erde; wenn ein Erdklumpen weggespült wird vom Meer, ist Europa geringer geworden, genau wie wenn es ein ganzer Vbrsprung, das Haus deiner Freunde oder dein eigenes wäre; der Tod eines jeden Menschen vermindert mich, denn ich bin verflochten mit der Menschheit; und darum schick beim Totengeläut keinen aus, zu fragen, wem die Stunde schlägt; denn sie schlägt dir.
Noch im vulgarisierten Zitat ist die Perspektive klar. Keinerlei Orakel, keinerlei hilflose Versuche ausgetüftelter Zukunftsdeutung können es verdecken: Am Schluss steht der Tod, dein eigener Tod. Staub, Tod, Stille — darauf geht die Aussicht in diesem Gedicht. Ein Unikum im Wferk Brodskys: Es tragt ein Epigraph von einem deutschen Dichter, Peter Huchel (1903–1981), aus dem Gedicht «Die Engel» (im Band «Gezählte Zeit», 1972).
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Die Praxis der Zukunftsdeutung ist so universal wie die allgemein-menschliche Angst vor dem Tod, vor dem Sterbenmüssen. In Brodskys langem Gedicht «Gesprach mit dem Himmelsbewohner» («Разговор с небожителем») von 1970, wo der Sprechende sich nicht scheut, sich zum modemen Hiob zu stilisieren, heißt es in der 19. Strophe klar:
Und gleich in der folgenden Strophe, ganz ähnlich wie in dem zwei Jahrzehnte später entstandenen Gedicht «Anmerkungen eines Farns»: «Die Perspektive des Sterbens / steht immer offen dem Auge» («раз перспектива умереть / доступна глазу»).
Das Besondere des Brodsky-Gedichtes «Anmerkungen eines Farns» liegt aber darin, dass es nicht nur die Verfahren der Zukunftsdeutung parodiert, sondern auch Strategien entwickelt und Empfehlungen gibt, wie dieser vemichtenden Aussicht begegnet werden könnte. Der postmoderne Prophet sagt nicht nur die Zukunft voraus und formuliert die Perspektive des Todcs, sondern gibt Anleitungen, Ermahnungen. Sie sind das Wesentliche in diesem Gedicht. Und nicht die Zukunft. Denn der Zukunft gegenüber war Brodsky zutiefst misstrauisch gestimmt. Das Gedicht «Vertumnus» («Вертумн») von Dezember 1990 spricht eine deutliche Sprache:
Überhaupt die Zukunft — der illusionslos-antiutopisch eingestellte Brodsky hielt nichts von ihr, stand ihr ablehnend gegenüber. Sie ist bei ihm ein Zeitraum der Kälte, der Vereisung, der Abwesenheit der Liebe. Schlechthin eine Ära des Todes.
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Der Anfang der 4. Strophe formuliert einen Imperativ: «Deshalb besser: keine Angst!» («Поэтому лучше бесстрашие!»). Am Schluss der 7. Strophe wird das Schreiben als Mittel der Befreiung von der Angst beschworen; «Das Kratzen der Feder in der Stille hältst / du für den Versuch in Kleinschrift die Angst zu verlernen» («что скрип пера / в тишине по бумаге / — бесстрашье в миниатюре»). Furchtlosigkeit «in Miniatur», ob als «Kleinschrift» oder «im Kleinen» — es ist eine bescheidene Strategic der Angstbewältigung, die der Dichter hier empfiehlt.
Und noch eine für Brodsky typische Ermahnung versteckt sich ganz am Schluss des Gedichtes: Vermeide die Tautologie. «Und Furcht vor Tautologie ist Garantie für Wohlergehen» («И страх тавтологии — гарантия благополучья»), Brodsky war ein Dichter, der sich als eingefleischter Exilant jede Hoffnung auf Intaktheit und Heimkehr und Heil verbat. Simple Wiederkehr an den Ort des früheren Geschehens wäre Tautologie, eine Figur, die Brodsky immer wieder geißelte: als bloße Wiederholung im Klischee, öde Vermassung, sinnlose Vermehrung des ohnehin Vorhandenen.
Tautologie war für Brodsky eine Todsünde des Künstlers. Auch im Bereich des eigenen Lebens. Er weigerte sich selbst nach der Wende, als das Sowjetimperium untergegangen war, nach Russland zurückzukehren. Als Lebender nicht und erst recht nicht als Toter, um der Vereinnahmung durch ein quasi-staatliches Grab und dem russischen Stereotyp des zu Lebzeiten geschundenen, nach dem Tod verklärten Dichters zu entgehen. Also wollte er in seinem «irdischen Paradies» Venedig begraben sein, auf der Friedhofinsel San Michele; in jenem Venedig, das der Exilant «siebzehn Winter lang» aufsuchte, ohne dabei je an Wiederholung oder Tautologie zu denken. Denn in der Kunst war Tautologie und Klischee für ihn unmöglich, und Venedig für ihn — der Ort der Kunst schlechthin, nachzulesen in seinem grandiosen Venedig-Essay «Ufer der Verlorenen» (im englischen Original: «Watermark»).
Und ein anderer Imperativ leitet sich aus der Angst vor dem Sterbenmüssen ab, jener Imperativ des Staubes: «Vergiss mich nicht» («не забывай меня»), in der 6. Strophe. Es ist der Imperativ, den Huchels Gedicht «Die Engel» vorgegeben hatte mit dem biblisch hohen Register in «Gedenke meiner» und den Brodsky, der Pathosbrecher, herabdämpft zu einem schlichten: «Vergiss mich nicht!» Die Bewahrung des Gedächtnisses ist auch ein Motor des Schreibens und Schreibenmüssens — angesichts des Sterbenmüssens.
Brodsky ist der Stoiker der Postmoderne. Im Jahr 1994, ein gutes Jahr vor seinem Tod, widmete er einen seiner letzten Essays Marc Aurel (121–180), dem römischen Kaiser und Autor der Selbstbetrachtungen. «Hommage an Marc Aurel» ist eine so einfühlsame wie energische Würdigung der stoischen Philosophic von Zenon bis Epiktet und Marc Aurel, deren gemeinsames Projekt die Überwindung der Angst vor dem Tod war. «Bedenke, dass der Hauptquell alien Übels für den Menschen wie auch von Niedertracht und Feigheit nicht der Tod, sondern die Furcht vor dem Tod ist» (Epiktet). Das Ziel der Stoiker war die Gemütsruhe (griechisch: Ataraxia, lateinisch: Aequanimitas), Gleichmut und Gelassenheit angesichts des Schrecklichen. Brodskys Essay ist eine Vemeigung vor den stoischen Philosophen und mutet fast wie ein Bewerbungsschreiben an, selber in ihre Reihe aufgenommen zu werden. Selbst der Selbstmord, den die Stoiker als Mittel der Freiheit in auswegloser Lage bejahten, findet sich in Brodskys Farn-Philosophic wieder, im «Signal dass es Zeit wird für einen selbst, / die Lampe zu löschen» («указанье, что самому пора / выключить лампу»).
Die allgegenwärtige Perspektive des Sterbens im Werk des von seiner Herzkrankheit dauemd bedrohten, am 28. Januar 1996 dem Herztod erlegenen Joseph Brodsky schließt die Gegenmittel und Strategien der Überwindung nicht aus, den Imperativ des Schreibens und Gedenkens. Kein anderes Gedicht resümiert derart prägnant Brodskys Lebensmaximen wie «Anmerkungen eines Farns». Prinzipien, die er hier, nach der parodistischen Reihung diverser Verfahren der Zukunftsdeutung, in eine Anzahl Ermahnungen kleidet: Vermeidung der Tautologie, Furchtlosigkeit angesichts des Todes, Bewahrung des Gedächtnisses in der Schrift, Gleichmut und Gelassenheit, Angstbewältigung dank der beharrlichen Schreibkunst, dank dem bescheidenen Geräusch des Schreibgeräts in der Stille. Es ist ein nicht etwa heilendes (eine solche Idee wäre Brodsky suspekt), aber zugleich erhebendes und ernüchterndes Geräusch. Es ist die klangliche Entsprechung einer Lebens— und Sterbenslehre «im Kleinen», in der Miniatur. Es ist die bescheidene Musik des Farns.
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