BRJUSOV, BELYI, MANDEL’ŠTAM
Konstantin M. Azadovskij gehört zu den Pionieren der Wiederentdeckung und Erschließung der Literatur des «Silbernen Zeitalters». Ihm gebührt das Verdienst, die russische Moderne nicht nur als nationales Kulturgut, sondern als Bestandteil der europäischen Moderne in ihren intemationalen Beziehungen und Verflechtungen in den Blick genommen zu haben. Zu diesem gesamteuropaischen Horizont gehört auch die Tatsache, dass bei aller Unterschiedlichkeit der poetischen Konzepte sowohl die Symbolisten als auch die Akmeisten ein kulturelles Programm vertraten, das die eigene Position nicht durch Ausgrenzung des Fremden bestimmte, sondern die, im Gegenteil, in bewusster Aneignung fremder Kulturen und in der Auseinandersetzung mit ihnen, ihren eigenen Platz in der Weltkultur suchten. Die Symbolisten proklamierten die Kulturals den Weg zur allumfassenden «Synthese» (Belyj, Ivanov), die Akmeisten verteidigten Kultur als einen universellen Wert (Achmatova) und sprachen in Zeiten der Barbarei von der «Sehnsucht nach Weltkultur» (Mandel’štam).
In der russischen Literatur spielte traditionell auch die Beschäftigung mit dem eigenen Fremden, dem Kaukasus, der Krim und Sibirien eine wichtige Rolle. Die eroberten Gebiete wurden zu Objekten ästhetischer Aneignung, ohne dass die Kolonialismuspolitik des Zarenreiches prin-zipiell in Frage gestellt worden wäre (zu den Ausnahmen gehört der spate Lev Tolstoj). Die gelegentlichen Hinweise bei Puškin oder Marlinskij, dass Georgien und Armenien uralte christliche Zivilisationen seien, ändern nichts am kolonialistischen Gesamttenor der Behandlung des russischen Ostens in der klassischen russischen Literatur. Zu untersuchen wäre nun, inwieweit die Autoren der Moderne neue Facetten in die literarische Eroberung des russischen Orients einbringen. Zu fragen wäre auch, was mit ihren Syntheseansätzen in der sowjetischen Ära geschieht, die ja eine neue Phase der Kolonialisierung einleitet. Hier erõffnet sich ein weites Forschungsfeld, zu dem an dieser Stelle nur kurze Überlegungen angestellt werden können.
Am Beispiel der Armenien-Texte von Brjusov, Belyj und Mandel’štam soil gezeigt werden, dass diese Autoren ihr im «Silbemen Zeitalter» ausgebildetes Kulturverständnis in die sowjetische Ära hinüber zu retten versuchen, was den Dissens mit der offiziellen Kulturpolitik vorprogrammiert.
Valerij Brjusovs Anthologie:
«Poëzija Armenii. Narodnaja — srednevekovaja — novaja v perevode russkich poétov»
Brjusovs Anthologie entstand auf Bitten des in Moskau ansässigen Armenischen Komitees nach dem Genozid der Armenier durch das Osmanische Reich im Jahr 1915.
Brjusov selbst übemahm den Löwenanteil der Übersetzungen, konnte aber auch andere symbolistische Dichterkollegen, z. B. A. Blok, V. Ivanov, F. Sologub, K. Bal’mont, zur Mitarbeit gewinnen. Er besuchte Armenien 1916 und wurde von den dortigen Dichtem und Künstlern begeistert empfangen. Bis zu seinem Tode ließ ihn die Beschäftigung mit Armenien nicht mehr los. Mehrere Gedichte sind Armenien gewidmet, eine historische Chronik «Letopis’ istoričeskich sudeb armjanskogo naroda» blieb unvollendet.
Brjusov betont im Vorwort der Anthologie die lange Verbundenheit des Schicksals Armeniens mit dem Russlands, hebt aber zugleich dessen kulturelle Eigenleistung hervor, die er besonders in der Literatur verkörpert sieht, «та исключительно богатая литература, которая составляет драгоценный вклад Армении в общую сокровищницу человечества».
In dem einleitenden umfangreichen Aufsatz mit dem Titel «Poëzija Armenii i ee edinstvo na protjaženie vekov (Istoriko-literaturnyj očerk)» entfaltet er ein kompaktes Bild der Geschichte der armenischen Literatur in ihren soziokulturellen Kontexten. Beschrieben werden die vielfältigen und wechselvollen kulturellen Einflüsse, die die armenische Kultur geprägt und die zur Einzigartigkeit ihrer Poesie geführt haben. Die Ausgangsthese, die das Konzept der gesamten Auswahl bestimmt, lautet:
Две силы, два противоположных начала, скрещиваясь, переплетаясь и сливаясь в нечто целое, единое, направляли жизнь Армении и создавали характер её народа на протяжении тысячелетий: начало Запада и начало Востока, дух Европы и дух Азии. Поставленная на рубеже двух миров, постоянно являвшаяся ареной для столкновения народов, вовлекаемая ходом событий в величайшие исторические перевороты, Армения самой судьбой была предназначена служить примирительницей двух различных культур: той, на основе которой вырос весь христианский Запад, и той, которая в наши дни представлена мусульманским Востоком. «Армения — авангард Европы в Азии», эта, давно предложенная, формула правильно определяет положение армянского народа в нашем мире.
Daraus leite sich die kulturelle Mission Armeniens ab:
Историческая миссия армянского народа, подсказанная всем ходом его развития, — искать и обрести синтез Востока и Запада. И это стремление всего полнее выразилось в художественном творчестве Армении, в её литературе, в её поэзии [250] .
Brjusov hält die Bekanntschaft mit der armenischen Poesie für jeden gebildeten Menschen für unabdingbar. Er reiht sie ein in das Pantheon der Weltkultur:
В этом пантеоне мирно стоят рядом творения гения французского и гения немецкого; поэмы индусских поэтов или японские танки со стихами классиков Эллады и Рима; песни первобытных скандинавов, грозная Едда, песнь о Нибелунгах с утончёнными строфами Китса, с загадочными балладами Едгара По [251] …
Brjusov blieb in Armenien auch während der sowjetischen Ära eine hoch geschätzte und verehrte Persönlichkeit, seine Armenien-Anthologie erfuhr mehrere Publikationen. Dennoch wird sein Ansatz, die Wirkungskraft der armenischen Poesie aus dem Zusammenspiel der vielfältigsten kulturellen Einflüsse zu erklären, von mehreren Kommentatoren der sowjetischen Publikationen seiner Anthologie getadelt, da sie damit ihres eigenständigen Charakters beraubt würde. In dem Syntheseansatz Bijusovs wird (zweifellos zu Recht!) ein Überbleibsel seiner symbolistischen Vergangenheit vermutet.
Andrej Belyj: «Armenija»
Andrej Belyj kam erst nach der Revolution mit Armenien in Berührung.
Er reiste mit seiner zweiten Frau K. N. Bugaeva drei Mai in den Kaukasus. Die erste Reise führte ihn von April bis Juli 1927 nach Batumi und Tbilisi, eine zweite im Mai bis August 1928 emeut nach Georgien, von wo aus er Ende Mai eine einwöchentliche Stippvisite nach Armenien untemahm. Im Frühjahr und Sommer 1929 weilte er nochmals in Armenien.
Die Reisen in den Kaukasus boten den Ausbruch aus der Isolation, in die Belyj nach seiner Rückkehr aus Deutschland geraten war. Die Begegnung mit der sozialen und literarischen Gegenwart gestaltete sich «mild», derm in Georgien war der ideologische Druck nicht so stark spürbar wie in den sowjetischen Metropolen. Belyj fand begeisterte Aufnahme bei den georgischen Künstlem, die sich seines früheren Ruhmes erinnerten und ihn als Klassiker feierten, ihn zu Vorträgen einluden und ihm damit jenen Respekt erwiesen, den er in Moskau und Petersburg schmerzlich vermisste.
Die Eindrücke der ersten Reise verarbeitete er in einem Tagebuch, das er 1928 unter dem Titel «Veter s Kavkaza» publizierte. Mit Belyjs zweiter Kaukasusreise war dann schon ein kulturpolitischer Auftrag verbunden, nämlich die Umgestaltung des nunmehr sowjetischen Armeniens zu dokumentieren. Der Bericht folgte einem Programm, das drei Punkte organisch verbinden sollte:
Мне интересны: природа, строительство новой Армении, даже развалины многостолетние [256] .
Der Text besteht aus acht Kapiteln, die im wesentlichen die Reiseroute wiedergeben: Mit den Ortsbezeichnungen sind Akzentsetzungen verbunden: Ečmiadzin, die alte Hauptstadt, steht für Kultur, Ajger-Lič (etwa 15 km von Erevan entfemt) für die neue Zeit, das Wasserkraftwerk.
Anders als das Georgienbuch, das ungeordnet Impressionen zur Natur, den Sehenswürdigkeiten und Begegnungen mit Künstlern und Intellektueilen russischer und georgischer Provinienz in Tagebuchform einfängt, herrscht im Armenienbericht verdichtete Symbolik. Stärker als die Reise nach Georgien wurde, wie Carmen Sippl treffend feststellt, der Aufenthalt in Armenien vom Autor explizit als Begegnung mit dem Fremden, als «Sich Entfemen von Europa, als Annäherung an Asien» dargestellt. Doch geht es dabei nicht um die Abgrenzung vom Eigenen, Zivilisatorischen, sondern eher im Gegenteil, wird, ähnlich wie bei Brjusov, dessen Armenien-Texte er kannte, «die Herkunft Armeniens aus den wechselvollen alten Kulturen, der persischen, somerischen, assyrischen, babylonischen, die Ankunft griechischer Krieger, als Urszene der Menschheitskultur, als Urbild steingewordener Geschichte, augenfÄllig gemacht».
Belyj formt sein Armenien-Bild stets aus dem Zusammenspiel von Natur, Kultur und Physiognomie der Bewohner:
Земля — с древним запахом: в чобры и мяты влиты испарения староармянской и староперсидской культур (…); здесь жив Вавилон: поглядите на бритые профили, губы, носы ериванцев, представьте к ним длинные клины бород завитых, — вы узнаете фрески (…)… профиль армянский — вполне вавилонский (…) Здесь «аирик» (или батюшка) более напоминает жреца вавилонского, вышедшего из Ваалова капища, — не христианского. (…) Впаяны древности в почву; и камни природные — передряхрели скульптуру; и статуи, треснувши, в землю уйдя, поднимают кусты; не поймёшь, что ты видишь: природу ль, культуру ль? [260]
Großen Raum nehmen die Erinnerungen an die Verheerungen ein, die Armenien als Spielball zwischen den Großmächten Persien und Türkei erlitten hat; der russischen Eroberung Erivans durch General Paskevič hingegen wird nur knapp die Reverenz erwiesen. Die Verbindung zu Russland wird nicht auf der Ebene der Kultur, sondern der militärischen Eroberung hergestellt.
Nicht die Gemeinsamkeiten zwischen Russland und Armenien, die Brjusov dem Russland angegliederten nordostlichen Zweig der armenischen Kultur konzediert, bilden also den Fokusvon Belyjs Wahrnehmung, sondern die Erinnerung an die kulturelle Vergangenheit Armeniens. In Eèmiadzin mit seiner Kathedrale, deren Ausmaße ihn an die Kathedrale in Cambridge erinnem und in dem Museum, wo ihm dergelehrte Bibliothekar Senekerim Ter-Akopjan die uralten kostbar ausgeführten Handschriften zeigt, wird ihm das Zusammenspiel heidnischer, judäischer und christlicher Elemente für die Formierung derarmenischen Kultur deutlich vor Augen geführt. Neben Ter-Akopojan wird aberauch der Ingenieur Sirmazanjan genannt, der Erbauer des Staudamms in Ajger-Lič, des Weiteren ein Kapitän auf dem Sevan-See sowie der Maler Saijan, Belyjs Begleiter. Belyj entledigt sich hier seines sozialen Auftrags.
Sein Synthesestreben konzentriert sich weniger wie bei Brjusov auf die Vermittlung der armenischen Kultur zwischen Asien und Europa, als vielmehr auf die Verschmelzung der Elemente Natur und Kultur, die er in der Landschaft entdeckt. In der Landschaft Armeniens ofifenbaren sich für Belyj die Schicksale des Landes. Das wird in der Beschreibung des Ararats, des wichtigsten Natur— und Kulturzeichens der Armenier sichtbar:
To — Арарат.
Смотришь, — кажется: вылезло что-то огромное, все переросшее — до ненормальности вдруг отчеканясь главою своей; <…> и растет впечатление, что голова, отделившись от тела, является белой планетой, которой судьба — обвалиться, иль в небо уйти навсегда, унося времена патриархов: не бред ли: в двадцатом столетии увидеть подножье ковчега, летавшего где-то здесь, в уровнях воздуха; и дико вспомнить легенду армян, будто рай насажден был здесь именно <…> [266]
Diese Urszene der Menschheitsgeschichte erscheint ihm symboltrachtig auch für die Zukunft:
Будет то время, когда станет братским объятьем сплетение рук араратских, откуда — восход в поднебесные выси, куда ушел конус, коли он… не рухнет до этого; он — разрушается; землетрясение сороковых годов прошлого века свалило под глетчером бок великана на церковь Иакова и на поселок, — в места, куда Ной, опустившися, стал разводить виноградники послепотопные [267] .
Belyjs Armenienbericht wurde 1928 im Heft 8 der Zeitschrift «Krasnaja Nov’» veröffentlicht, dann erst wieder vollständig im Jahre 1985 in Erevan.
Osip Mandel’štam: «Putešestvie v Armeniju»
Mandel’štams Beschäftigung mit Armenien ist uns vor allem in drei Textsorten überliefert: im Gedichtzyklus «Armenija» (1930), dem Notizbuch zur Armenien-Reise «Zapisnye knižki 1931–1932» sowie dem eigentlichen Reisetext «Putešestvie v Armeniju» (1931/1933). Mandel’štam besuchte Armenien vom Mai bis November 1930. Seit 1928, als eine Verleumdungs — und Hetzkampagne gegen den Dichter entfesselt worden war, träumte er von dieser Reise, die ihm schließlich durch Fürsprache Nikolaj Bucharins genehmigt wurde.
Ähnlich wie bei Belyj ist die Reise als Flucht aus der bedrückenden Moskauer Atmosphäre zu verstehen, was sich in den Armenien-Texten widerspiegeln und deren Erzählperspektive bestimmen wird.
Aber Armenien war — und darin Belyjs Georgien-lmaginationen verwandt — nicht beliebiger Fluchtort, sondern kultureller Sehnsuchts-ort, der dem symbolistisch-akmeistischen Synthesedenken reichliche Nahrung bot. Beide Dichter verbanden mit ihrer Reise in den Kaukasus zugleich die Suche nach den eigenen poetischen Wurzeln: Während Belyj in Georgien die Kolchis, die mythologische Landschaft seiner symbolistischen Argonauten-Phase zu entdecken glaubte, fand Mandel’štam — in dessen Dichtung ebenfalls georgische Motive zu finden sind — in Armenien zu den Wurzeln seiner jüdischen Kultur, aber eben in ihrer Verquickung mit der klassischen Antike. Der Mandel’štam Übersetzer und — Spezialist Ralph Dutli weist darauf hin, dass Mandel’štam bereits in seiner «Četvertaja proza» von 1929/1930 die armenische Erde als die jüngere Schwester der judäischen bezeichnete. Auch der nach der Reise entstandene Gedichtzyklus bezeugt, dass Armenien seine poetische Phantasie beschäftigt hat.
Der Europäer Mandel’štam, der im mittelmeerischen Raum das Zentrum der europäischen Kultur sieht, betrachtet immer auch die zahlreichen Fäden und Verästelungen mit der «Weltkultur», aus der die europäische Kultur ihre besondere Qualität gewinnt.
Laut Nadežda Mandel’štam schloss er die Krim und den Kaukasus, insbesondere Armenien, durch ihre Verbindung mit dem Schwarzen Meer in diesen europäischen Kulturraum ein:
Средиземноморье было для него священной землёй, где началась история, которая путём преемственности дала христианскую культуру Европы. (…) В сферу Средиземноморья он включал Крым и Закавказье. (…) Древние связи Крыма и Закавказья, особенно Армении, с Грецией и Римом казались ему залогом общности с мировой, вернее, европейской культурой. (…) [272]
So wird ihm die Erde Armeniens, mit dem Berg Ararat, der bereits im ersten Buch Mose 8.4 als biblisches Land genannt wird, zum «Lehrbuch derersten Menschen», wie es in einem Gedicht des Zyklus heißt. Mandel’štam verortet Armenien in seiner geokulturellen Landkarte «на окрайне света» (4. Gedicht), wo es seinen Platz als «östlicher Vorposten jüdisch-christlicher, europäisch-abendländischer Kultur» behauptet.
Der heilige Berg Ararat faszinierte auch andere russische reisende Literaten. In der symbolischen Ausdeutung des Ararat bei den Dichtem der Moderne findet man Puškins Staunen über den biblischen Berg wieder («Putešestvie v Azrum»), zugleich aber weiterführende kulturelle Reminiszenzen: Brjusov besingt den «старый Арарат» als Monument der Freiheit: «В огромной шапке Мономаха, / Как властелин окрестных гор, / Ты внёсся от земного праха / В свободный голубой простор». Belyj sah in ihm den Patriarchen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft steingeworden seien. Mandel’štam versieht den Ararat mit verschiedenen metaphorischen Bestimmungen, so z. В.: «Весь воздух выпила огромная гора», «дорожный шатёр».
Es ist schwer, in Mandel’štams Armeniengedichten ein geschlossenes Bild des Landes und seiner Kultur auszumachen. Zu den wichtigen Versatzstücken, die das poetische Gebäude namens Armenien errichten, gehören Motive der armenischen Volkspoesie, wie die Rose, die allerdings ihres traditionellen Partners der Nachtigall beraubt ist: «Ты розу Гафиса колышешь» beginnt der Gedichtzyklus und verweist damit auf den starken Einfluss der persischen Tradition auf das Armenische. Zugleich wird das Eigenständige und Widerständige der armenischen Poesie betont:
Закутав рот, как влажную розу, / Держа в руках осьмигранные соты, / Всё утро дней на окрайне мира / Ты простояла, глотая слезу. // И отвернулась со стыдом и скорбью / От огородов богатых востока; / И вот лежишь на москательном ложе / И с тебя снимают посмертную маску [279] .
Doch statt der romantischen Liebesbande zwischen der Rose und der Nachtigall, die die Volkspoesie durchzieht, lesen wir im VIII. Gedicht: «Холодно розе в снегу: / На Севане снег в три аршина…» Die zarte Rose muss sich nunmehr in eisigen Gefilden behaupten. Im ständigen Kampf der Mächte wurde Armenien zerrieben. Es ist ein Land, das standig in höchster Gefahr schwebt.
Ein weiteres wichtiges Mosaik seines Armenien-Bildes bildet die armenische Sprache, besonders das Altarmenische (Grapar), das Mandel’štam (erfolglos, wie er selbst erklärt) zu erlernen versuchte. Die fremde Sprache ist ihm Herausforderung: «Дикая кошка — армянская речь — / Мучит меня и царапает ухо», zugleich symbolisiert sie jene unverfälschte Kultur, die sich eben durch ihre unverfügbare Sprache den politischen Zumutungen der Zeit entzieht.
Die poetische Spannung des gesamten Reisetextes «Putešestvie v Armeniju» resultiert aus der Gegenüberstellung des ungeliebten Moskaus derfinsteren Spießerfamilien («суровые семьи обывателей») mit dem lichten Armenien, «где черепа людей одинаково прекрасны». Nur drei von acht Kapiteln haben Armenien zum Schauplatz. Der Akmeist verteidigt sein Konzept der kulturellen Autonomie und einer lebendigen häusliche Kultur, in das das transkauskasische Armenien genauso gehört wie das weltläufige, europäische Petersburg — nicht aber das «buddhahafte Moskau».
Die überraschende und übergangslose Hinwendung zur französischen Malerei in Moskau (Kapitel «Francuzy») in einem Text über seine Armenien-Reise erklärt sich aus einer Vorstellung, die die europäische Kultur als ein geistiges Kontinuum denkt und nicht als einen abgeschlos-senen Raum. Im «buddhahaften Moskau» sucht er die Spuren, die von europäischer Kultur zeugen und verbindet sie kraft seiner poetischen Assoziation zu jenem Gewebe, dessen Struktur nicht so leicht zu durchschauen ist. Die Fäden reichen von den französischen Impressionisten über den Biologen Boris S. Kuzin, den er in Armenien und später in Moskau trifft und der ihm nicht nur die Lehren Lamarcks und Linnés nahe bringt, sondern auch die deutsche Literatur. Kuzin ist das Gedicht «К nemeckoj reči» (1932) gewidmet. Die vielfältigen kulturellen Assoziationen und Überschneidungen, die den Armenien-Text durchziehen, bedürfen einer differenzierten Erforschung, an dieser Stelle kann lediglich auf das Verfahren der omamentalen Verflechtungen hingewiesen werden, mit dem der Dichter die unterschiedlichen geographischen Räume überzieht, wodurch sich über die augenscheinlich unterschiedlichen nationalen Physiognomien ein einheitliches geistig-kulturelles Gewebe legt, das die europäische Kultur für ihn darstellt. Insofern vermag er auch dem «buddhahaften Moskau» seine europäischen Seiten abzutrotzen.
Mandel’štam — wie auch seine Dichterkollegen Bijusov und Belyj — interessieren nicht die Grenzziehungen und Exklusionen, sondern die Verbindungslinien zwischen Kulturen und Zeiten — wobei das Zentrum ihres Denkens stets die europaische Kultur bleibt.
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