Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

LEV DAVYDOVITSCH PESKIN:

«WENN ICH GEARBEITET HÄTTE – WÜRDE ICH DIE SPRACHE BEHERSCHEN!..»

(LENINGRAD – UST'-KAMENOGORSK – TSCHELJABINSK – LENINGRAD – FREIBURG)

 

 

«Žid, der Jude, verkaufte Würmer»

Seine Großeltern mütterlicherseits wurden im Shtetl Gorodok, in Weißrussland geboren. Der Großvater, namens Hirsch, starb sehr früh, im Alter von 36 Jahren, und hinterließ eine Witwe, namens Rachil, und sechs Halbwaisen: Vier Söhne und zwei Töchter. Die Großmutter hatte es sehr schwer, die Kinder zu ernähren.

Aus Weißrussland – dem weißrussischen Dorf Belodedovo im Gorodokski Landkreis – stammt auch die Familie väterlicherseits. Sie hatten einen eigenen Produktions– und Landwirtschaftsbetrieb: Sie stellten Leder her und hielten riesige Pferde. Der Vater, David Leibovitsch Peskin, war für seine Zeit ein gebildeter Mensch: Er hatte Cheder besucht und arbeitete unter der Sowjetmacht als Sekretär im Dorfsowjet.

Etwa Mitte der 1920er Jahre heiratete der Vater, woraufhin die Eltern zur Schwester des Vaters nach Leningrad zogen. Sie lebte an der Ligovka in einem Mehrfamilienhaus und unterhielt eine Art Kantine: Bereitete Mittagessen für die Fuhrleute zu und verdiente so ihren Lebensunterhalt. Der Vater arbeitete auf der Baustelle (unter anderem baute er auch das Gebäude des Kirower Kreissowjets) und die Mutter bekam Arbeit in der Fabrik «Lenemailer», wo verschiedene Abzeichen und Orden hergestellt wurden.

Lev Davydovitsch kam schon in Leningrad, im Jahr 1928, zur Welt (sein älterer Bruder wurde drei Jahre früher noch in Weißrussland geboren). Folgendes ist aber dem jüngeren Bruder in Erinnerung geblieben: In Petersburg gab es damals viele Chinesen! So viele, dass man sie überall sah! Sie betrieben Stände, wo sie «Brauning»-Spielzeugpistolen und andere Spielsachen verkauften. Und im Jahr 1932 oder 1933 waren sie alle auf einmal – buchstäblich von einer Stunde auf die andere – verschwunden. Es war erstaunlich: Wie und wohin?

Dann kamen die Polen. In dem Haus an der Straße Ligovski-Prospekt, in dem die Familie Peskin wohnte, gab es sehr viele Polen. 1936 begann ihre Verfolgung und auch sie verschwanden nach und nach.

Wer sollte der Nächste sein? Nach einem mitgehörten Gespräch der Eltern, konnte jeder der Nächste sein. Der Hausmeister teilte dem Vater aufgrund ihrer Freundschaft mit, dass ihm befohlen wurde, «Volksfeinde» ausfindig zu machen. Alles weitere sei nicht mehr seine Sache.

Alle Verhaftungen wurden nachts durchgeführt und jeden Abend parkte der «Schwarze Rabe», die Limousine des NKWD, vor dem Haus. Die Familie Peskin traf es damals nicht.

Leva kam mit 8 Jahren in die erste Klasse der 8. Leningrader Schule. Er schloss sie nach fünf Klassen ab und folgendes blieb ihm ein Leben lang in Erinnerung.

Noch in der ersten Klasse bekam er von einem der Jungs zu hören: «Žid, der Jude, verkaufte Würmer». Leva brach in Tränen aus und dann kam der Geographielehrer zu ihm und fragte was los sei, warum er weinte. Nach dem er das mit den «Würmern» hörte, grinste er nur kurz und ging wieder zurück ohne was zu sagen. Warum tat er nichts?

Dennoch gab es keinen ständigen oder zügellosen Antisemitismus in der Schule. Und während der Blockade erst recht nicht. In der Klasse gab außer Leva keine Juden. Während der Blockade konnte man dann sowieso kaum mehr an die Schule zu denken. In der ersten Zeit kamen die Schüler noch aus Gewohnheit, später dann gar nicht mehr.

 

Blockade

Als der Krieg ausbrach, war die Familie in der Stadt. Am 20. Juni gingen sie ins Kino «Molot» an der Razyezzhaya Straße. Es lief eine Wochenschau mit dem Titel «Wenn der Krieg morgen kommt», man ahnte also schon was und es lag in der Luft.

Dann begannen die Bombardierungen und der Beschuss durch Artillerie. Als die Deutschen näher rückten, nahmen sie die Stadt mit Langstreckenkanonen unter Beschuss, was weniger vorhersehbar und damit schlimmer war, als die Bomben. Bei den Bombardierungen warfen die Deutschen viele Brandbomben, damit so viel wie möglich niederbrennt. Die Bomben waren auf Magnesiumbasis gebaut, wogen bis zu zwei Kilogramm und explodierten nicht, sondern setzten alles rund herum in Brand. Sobald eine Bombardierung begann rannten die Jungs furchtlos auf den Dachboden, wo die Fässer mit Sand standen. Über der Stadt waren sehr viele Aerostate, um Bombardierungen zu verhindern. Viel halfen die aber nicht, die Deutschen zündeten sie an oder schossen sie aus ihren Flugzeugen ab.

Furchterregend war während der Bombardierungen vor allem, wenn das achtstöckige Haus wie ein Spielzeughaus wackelte. Die Schutzbunker wurden gemieden, aus Angst, begraben zu werden.

Der Vater wurde bei einer Bombardierung verwundet. Die Mutter hob derweil mit den anderen Frauen Schützengräben aus. Regelmäßig beschossen die Deutschen die Frauen dabei zielgerichtet.

Schon im August 1941 sah der 13-jährige Leva Peskin zum ersten Mal einen Hungertod: Im Laden fiel ein Besucher einfach zu Boden und starb. Als der Blockadering dann geschlossen wurde (es war wohl am 8. September), wurde das zur Normalität.

Im Winter 1942 während der Blockade fand im Haus eine Versammlung statt. Es wurde die Warnung ausgegeben, kleine Kinder nicht allein raus zu lassen, da es Fälle gab, bei denen Kinder getötet und gegessen wurden. Auf den Straßen konnte man auch Leichen von Erwachsenen sehen, bei denen Teile des Körpers ausgeschnitten waren. Und niemanden kümmerte es. In den Wohnräumen gab es kein Licht. Beleuchtet wurde mit einer Öllampe: Maschinenöl wurde in einer Untertasse angezündet.

Die Wasserleitungen waren außer Betrieb. Das Wasser holte man aus Luken, indem man einen Eimer mit Seilen nach unten ließ.

In den Wohnräumen war es schrecklich kalt. Der Vater besorgte irgendwo eine «Burschuika», einen Kanonenofen aus Metall, der dann mit allem beheizt wurde, was zu finden oder zu stehlen war. Dazu gehörten vor allem auch Zeitungen. Bücher zu verbrennen, konnte die Familie sich nicht erlauben, aus ethischen Gründen.

Zusätzlich machten die Ratten zu schaffen. Man legte sich schlafen, zog die Decke über den Kopf und sie krabbelten am Körper; riesige Ratten, zum Teil in der Größe einer Katze. Schaffte man es eine Ratte abzuwerfen, kam schon die nächste.

Лев Пескин с женой Софией и сыном Дмитрием / Lev Peskin mit seiner Frau Sofia und Sohn Dmitrij (2012)

Im August oder Ende Juli brannten die Badajew Lagerstätten nieder, wo alle Lebensmittel Leningrads konzentriert gelagert wurden. Sie brannten eine Woche lang. Alles, was den Menschen blieb, war, die Erde bei den Lagerstätten zu sammeln und sie anschließend zu Hause zu waschen. Damit bekam man süßes Wasser.

In der Zeit des größten Hungers bekamen Kinder und Betreute je 125 Gramm des fürchterlichen gepressten Brotes; sonst gab es nichts. Von dieser Mangelernährung bekamen die Kinder aber auch die Erwachsenen schreckliche Verstopfung. Während der Blockade starben sehr viele Menschen daran. Gut, dass die Mutter sich an ein Mittel dagegen erinnerte: Seife in den Anus.

Kurz vor Anbruch des neuen Jahres 1942 wurde drei Tage überhaupt kein Essen ausgegeben. Es hieß, dass auch die Brotfabrik keinen Strom hatte. Danach gab es nachträglich gepresste «Lebkuchen».

Da man kaum noch Kraft hatte, lag die ganze Familie fast die meiste Zeit. Nichts – nicht mal Kino – interessierte. Was kann auch in einem solchen Zustand interessieren, außer Essen; und ein bisschen – ein ganz kleines Bisschen – Lesen.

Auch die Kommunikation mit anderen Menschen, selbst mit den Nachbarn, kam langsam zum Erliegen. Ging man raus ins Treppenhaus, kriegte man mit, dass wieder jemand gestorben ist.

 

Evakuierung

Im Februar 1942 besorgte der Bruder der Mutter Papiere, die es der Familie Peskin erlaubten, evakuiert zu werden. Und die Familie Peskin verließ die Stadt: Zu Fuß, bei minus 34 Grad, schlugen sie sich zum Finnischen Bahnhof durch. Von dort ging es mit dem Zug weiter bis zum Ladogasee, wo sie auf Busse umstiegen, die sie über den «Weg des Lebens», den die Deutschen selten beschossen, ans andere Ufer des Ladogasees brachten. Von dort ging es wieder weiter mit dem Zug, genauer gesagt einem Güterwagen mit Regalen und Kanonenöfen. Etwa nach zwei Monaten erreichten sie Alma-Ata. Dort gab es eine Sammelstelle, von der aus die Familie Peskin nach Ust'-Kamenogorsk im Osten Kasachstans weiter geschickt wurde. Bis dahin gab es dort noch kaum Evakuierte. Vor allem lebten dort deportierte Wolgadeutsche.

Die Familie lebte hier anderthalb Jahre in einem Dorf bei Kamenogorsk. Der Bruder wurde in die Armee einberufen und Leva arbeitete als Hirte. Dann kam eine Nachricht von einem anderen Bruder der Mutter und die Familie Peskin zog nach Tscheljabinsk. Auf dem Weg mussten sie in Novosibirsk Halt machen, wo ihnen eine Genehmigung erteilt wurde, ohne die sie nicht nach Tscheljabinsk hätten weiterfahren dürfen.

In Tscheljabinsk befand sich das Traktorenwerk, das während des Krieges Panzer herstellte. Dort arbeitete Lev Peskin bis 1946 als Schlosser. Die anderen Arbeiter zögerten nicht, vor einem von ihnen zu sagen, dass alle Juden von der Front in den Ural geflohen wären und da die größten Schädlinge seien. Wenn es zu Entlassungen kam, waren vor allem Juden davon betroffen. Leva blieb als einfacher Schlosser davon verschont. Wäre er ein Meister gewesen, wäre ihm sofort gekündigt.

Den schlimmsten Eindruck bekam die Familie Peskin von der Stadt Novosibirsk mit ihrem gigantischen Bahnhof. Es lief wieder eine Deportation und der ganze Bahnhof war voller Menschenmassen. Auch in Tscheljabinsk konnte man viele ausgehungerte Menschen sehen. Zweimal im Monat gab es in der Fabrik einen freien Tag, an dem keiner arbeitete.

 

Auswanderung

Im Jahr 1946 kehrte Lev mit seinen Eltern zurück nach Leningrad. Da der ältere Bruder in der Armee diente, bekam die Familie Peskin als Familie eines Militärdienstleistenden ihre Wohnung zurück. Der einst bester Schüler, der Leva vor dem Krieg war, setzte seine Schullaufbahn fort und schloss sie mit der 10. Klasse im Fernunterricht extern ab. Während dessen arbeitete er als Schlosser im Kirowwerk. Nach dem Schulabschluss begann er neben seiner Arbeit ein Abendstudium an der militär-mechanischen Fachhochschule. Die Fachhochschule schloss er im Jahr 1959 ab und bekam im Kirowwerk sofort eine Stelle als Ingenieur. 1995 ging er in Rente als Leiter der technischen Abteilung.

Zwischen dem Renteneintritt und der Emigration war er als Schöffe im Kreisgericht tätig.

Im Jahr 1964 heiratete Lev Peskin. Sein Sohn, Dimitri, ist ein erstklassiger Programmierer. Selbst als er 2000 nach Freiburg in Deutschland zog, konnte er seinen Beruf wegen der hohen Nachfrage nach Programmierern fortsetzen. 2008 kamen die Eltern nach. Ein großes Bedürfnis, auszuwandern, verspürten sie nicht. Wenn schon, dann nach Amerika, was in ihrem Alter jedoch äußerst schwierig gewesen wäre.

Den Antrag stellten sie 2001. 2005 gab es wohl eine Entscheidung, nach der die Zuwanderung beschränkt werden sollte. 2007 und 2008 wurde wohl die letzte «Welle» von Menschen in Deutschland aufgenommen, die eigentlich für das Land wirtschaftlich keinen Nutzen bringen konnten. Mit dieser Welle zogen die 80 Jahre alten Eltern zu ihrem Sohn nach Deutschland.

Ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft lebten sie im Wohnheim und zogen anschließend in eine gute Wohnung. Sie bedauern sehr, dass sie kein Deutsch können, da sie sich damit hier besser fühlen würden. Zwar lernte Lev Deutsch in der fünften Klasse und später in der Abendschule. An der Fachhochschule wurde aber nur ein Jahr Deutsch unterrichtet. Zudem schlecht unterrichtet! Zwar gab Peskin sein Leben lang in Formularen an, er könne Deutsch mit einem Wörterbuch zur Hand. Auch das entsprach indes nicht ganz der Realität. Er versuchte in Deutschland die Sprache nochmal zu lernen, aber das erwies sich als schwierig in dem Alter und angesichts von wenig deutschsprachiger Kontakte. «Hätte ich hier wenigstens als Schlosser gearbeitet, hätte ich die Sprache gelernt!» Mit diesem Gedanken tröstet sich unser Protagonist.

Der Sohn hilft seinen Eltern in allen Belangen und betreut sie in allen Nuancen ihres Lebens in Deutschland, das für sie ungewohnt bleibt. Im Wesentlichen besteht das soziale Umfeld der Eltern aus dem Sohn und dessen Familie. In die jüdische Gemeinde gehen sie mit Vergnügen, aber nur an Feiertagen. Das Bedürfnis nach Religion, welches naturgemäß in der Kindheit entsteht, ist bei den Peskins auch hier nicht entstanden.