Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

NELLI JEWGENJEWNA POZNER: «HALBBLUT», ODER «GLANZNUMMER!»

(LENINGRAD – GALITSCH – LENINGRAD – FREIBURG)

 

 

Pozner's und Lopatnikov’s

Nelli Jewgenjewna Pozner. Jüdin väterlicherseits und dem Familiennamen nach, Russin mütterlicherseits und dem Pass nach.

Ein Halbblut, ein Mischling – heißt das, sowohl das eine als auch das andere? Oder weder das eine noch das andere? Kommt drauf an.

Es gibt eine unglaubliche Geschichte über den Vater, die im Buch «Kinderarche» von Wladimir Lipowezki erzählt wird. 1918 herrschte in Petrograd eine katastrophale Hungersnot. Rund 800 Kinder, unter ihnen auch der Vater mit seiner Schwester, wurden in den Ural geschickt, um dort ernährt zu werden. Das erwies sich tatsächlich als zuträglich: die Kleinen nahmen an Gewicht zu, wurden braun, erholten sich körperlich. Ende August wollte man sie nach Petrograd zurückbringen – aber nein, Pustekuchen! Judenitsch kesselte die Stadt ein und sie konnten nicht raus. Der Uralwinter näherte sich, und die Kinder hatten nur Sommerkleider und -schuhe mit. Dann organisierte das Amerikanische Rote Kreuz eine richtige Expedition, um diese Kinder zu retten: Über Wladiwostok wurden sie in die USA befördert, und dort drei Jahre lang verpflegt und geschult, während in Russland der Bürgerkrieg dauerte. Als der Krieg zu Ende war, durften alle bleiben. Diejenigen, die nicht bleiben wollten, brachte man durch Finnland nach Petrograd zurück. Statt eines Monats Sommerferien machten sie eine dreijährige Weltreise!

In Amerika machte der Vater Abitur, und nach seiner Rückkehr wurde er in den Studiengang Funktechnik am Institut für Technologie immatrikuliert. Aber er brach das Studium ab, denn er spürte keine Neigung zum Beruf.

Es zog ihn auf die Bühne. Als er bei einem Wettbewerb für Unterhaltungskünstler den ersten Platz gewann, wurde ihm die Stelle als Conférencier beim Verband der staatlichen Kleinkunstbühne Leningrad angeboten. Das Pech war nur, dass… sein leiblicher Vater ihn nach dieser Rochade vor die Tür setzte!

Als der Vater heiratete, akzeptierte seine Familie die Schwiegertochter – eine Schlagersängerin – nicht. Und nur als im Juni 1933 Nelli das Licht der Welt erblickte, kam die Oma, schaute auf die Stumpfnase ihrer Enkeltochter und meinte: «Sie ist die Unsrige!» Und die Pozner-Lopatnikows wurden verziehen.

Nun ein paar Worte zum halsstarrigen Opa Pozner. Er war bei weitem nicht immer ein solcher «Mann von Stahl und Eisen». Dieser begabte Erfinder landete einmal in Krakau, wo die Oma – ein bildschönes Mädchen – lebte. Dort verliebte er sich in sie besinnungslos und machte ihr einen Heiratsantrag. Aber ihre Eltern lehnten ihn ab. Sie meinten, sie könnten für eine solche Schönheit einen wohlhabenderen Ehemann wählen. Dennoch erlaubten sie der Tochter, mit dem missmutigen Bewerber zum Bahnhof zu fahren: Er wollte nach Sankt-Petersburg. Aber sie hatte auch Gefühle für den Mann entwickelt und brach daher am Bahnhof in Tränen aus. Dann sagte der Opa: «Sehen Sie… Ich habe eigentlich zwei Fahrkarten». Und die Oma stieg mit ihm zusammen in den Zug ein und musste dies nie bereuen. So war das!..

Die Geschichte der Lopatnikows, der Verwandten mütterlicherseits, ist nicht minder interessant. Der Urgroßvater war noch Leibeigene und dabei ein sehr begabter Maler. Sein Leibherr, ein Demidow aus dem Gouvernement Pskow, bemerkte das und ließ ihn nach Paris und Italien reisen, damit er sich in der Malerei und Holzschneidekunst ausbilde. Nach zwei Jahren kehrte der Urgroßvater zurück und schnitzte ein prachtvolles Möbelset aus Eiche für die Bibliothek seines Leibherrn, so dass dieser dem Ahnen einen Freibrief ausstellte. Er kam mit der Urgroßmutter nach Petersburg und gründete ein Artel. Im prachtvollen Esszimmer des Journalistenhauses in der Bolschaja Morskaja Straße (ehemalige Stadtvilla des Großfürsten Wladimir) kann man heute noch die von ihm geschnitzten Panneaus aus Eichenholz mit Festons, Obst usw. bewundern. Sie tragen das Brandmal des Urgroßvaters: «Holzschnitzerei des Artels von Nikiforow und Lopatnikow».

Sein Sohn, der Großvater von Nelli Jewgenjewna, absolvierte die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und diente als Hauptökonom beim Baron Nobel. Nahezu alle Millionen von Nobel liefen durch seine Hände! Darüber hinaus führte er Revisionen bei Kommerzbanken durch, bewertete Spenden bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und zählte sie durch. Es ist also nicht schwer zu erraten, dass die Einstellung der Lopatnikows der Revolution und den Bolschewiki gegenüber nicht gerade herzlich war. Und als ihre Tochter einen Pozner heiratete, weinte die Oma bitter: Er sei bestimmt ein Bolschewik, das kommt so sicher wie das Amen im Gebet!

Aber Jewgeni Platonowitsch war kein Parteimitglied.

Wer war denn dieser Mann?

Eine geistreiche, charmante und anständige Person. Und dazu ein Künstler! Er erhielt Unterricht bei Kosinzew und Trauberg, war mit Soschtschenko bekannt. Die Texte für seine Auftritte verfasste er meistens selbst, seine beste Nummer hieß «Bouts-rimés». Zu Hause stieg Nelli, ein fünf bzw. sechs Jahre altes Mädchen mit Haarschleife, auf einen Stuhl und sang, tanzte oder sagte Gedichte vor, begleitet von ihrem Vater. Arkadi Raikin, der sie ab und zu besuchte, nannte sie eine «Glanznummer»!..

 

Ganz anderer Leningrad

Der 22. Juni überrumpelte ihn und seine Tochter in Kislowodsk, wo er Gastspiele hatte. Am Vorabend versprach ihr der Vater, zusammen in den Film «Die schöne Wassilissa» zu gehen. Als er dann verkündete: «Töchterlein, der Krieg hat begonnen», schlug Nelli die Hände über dem Kopf zusammen und sagte mit einer von Tränen erstickten Stimme: «Dachte ich's doch! Das heißt, wir gehen nicht ins Kino!»

Sie begaben sich rasch nach Leningrad zurück. Das war sehr schwierig, denn Militärtransporte gingen von Osten nach Westen, sie beide aber von Süden nach Norden, d.h. querdurch, fahren mussten. Die Reise nahm nicht 2, sondern 20 Tage in Anspruch! Als bei Leningrad deutsche Bomber am Himmel erschienen, nahm sie der Vater vom Wagentritt herunter, legte sie auf den Boden neben die Bahnschwellen und landete auf ihr, um sie mit seinem Körper vor Kugeln zu schützen.

Sie kamen in ein vollkommen anderes Leningrad zurück. Überall gab es Höckersperren, alle Fensterscheiben waren kreuzweise mit weißem Papier beklebt, am Himmel schwebten die Aerostate der Luftabwehr. Der Vater ging ins Militärkommissariat. Als er zurückkehrte, musste die Tochter weinen, weil sie eine Veränderung der väterlichen Gerüche spürte: An die Stelle eines guten Eau de Cologne traten Bauern-Tabak und Schweiß. Als Bühnenkünstler durfte der Vater bleiben und nicht an die Front gehen. Allerdings machte er von dieser Option keinen Gebrauch und meldete sich freiwillig. Er sprach Englisch und Deutsch und war ein guter Organisator.

Der Vater ging an die Karelisch-Finnische Front, wo er sich zunächst zum Flieger ausbilden ließ. Nelli, ihre Mutter und Tante, eine Klavierspielerin und Schülerin von Glasunow, blieben in der Stadt. Am Vorabend des 7. November fiel eine Bombe auf ihr Haus, aber die Wohnung wurde nicht zerstört, nur Fensterscheiben und Türen flogen heraus. Am nächsten Tag fanden die hergeschickten Soldaten die Tür und hängten sie ein, nagelten Sperrholz vor die Fenster, und danach kam das Tageslicht nie in die Wohnung hin, sie wurde nur mit einem kleinen Lämpchen beleuchtet…

Zwei Erlebnisse haben sich im Gedächtnis fest verankert. Einmal gingen Nelli und ihre Mutter Brot holen. Das Brot an sich war furchtbar – schlecht ausgebacken, feucht, schwer, mit Schalen von Sonnenblumenkernen und Lehm. Auf vier Lebensmittelkarten wurden ihnen je 125 Gramm Brot, insgesamt also 500 Gramm, abgegeben: Ein halber Laib und eine Zugabe. Mama drückte das Brot fest an sich, aber plötzlich rannte ein Bube – ein Handwerker – auf sie zu, schnappte ihr das Brot weg und machte sich auf die Socken. Mama schrie, und aus der Nachbarstraße kamen zwei streifende Soldaten und ein Offizier angerannt. Sie holten den Dieb rasch ein und brachten ihn her. Sein ganzer Körper war geschwollen, die Augen eng wie Schlitzen, krampfhaft und total verwirrt kaute er ihr Brot: Es war ihm schon egal, was man mit ihm machen wird – töten oder ins Gefängnis sperren. Seine einzige Bestrebung war, dieses Brot fertig zu kauen! «Dieser?», fragte der Offizier. – «Nein, nicht dieser. Jener war viel größer». Dieser Bube und die Einsicht, dass manche Diebstähle unbedingt verziehen werden müssen, prägte sich das Gedächtnis des 9-jährigen Mädchens für das ganze Leben ein.

Das zweite Erlebnis. Schon während des Krieges brachten sie zwei riesige Bündel schmutziger Wäsche in die Wäscherei. Dann ging es richtig los mit Beschüssen und Bombenangriffen, das Haus wurde zerbombt. Niemand dachte an die Wäsche in der Wäscherei… 1945 erhielten sie plötzlich eine Benachrichtigung per Post: Sie können ihre Wäsche aus der Wäscherei abholen! Damals bestanden die Habseligkeiten der Pozners aus einem einzigen großen Koffer und nun hatten sie plötzlich zwei riesige Bündel Wäsche! Alles war gestärkt und schneeweiß – Omas Tischdecken, Steppdecken und sogar drei Konzerthemden. Was für ein Reichtum! Was für bewundernswerte Moralvorstellungen! Während der Blockade herrschte in Leningrad trotz alledem Disziplin, die Menschen waren mut– und verantwortungsvoll – deswegen hielt die Stadt durch.

Während der Blockade kamen 11 Familienmitglieder von Nelli Jewgenjewna ums Leben. Sie und ihre Mutter wären auch ums Leben gekommen, aber der Vater ließ es nicht geschehen. Er leierte keinem Geringeren als Marschall Merezkow eine Dienstreise von der Karelisch-Finnischen an die Leningrader Front aus dem Kreuze und brachte seine Familie und die Familie eines Obersten ins Stabsquartier. Als Nelli aus der sonnenlichtlosen Wohnung nach draußen getragen wurde, schrie sie laut, weil der Schnee ihr die Augen stach: «Augen! Augen!». Die Mutter wickelte ihr einen Schal um den Kopf, und das Mädchen konnte wieder nichts sehen.

Dann begegnete ihnen ein Unglück… Der Vater wurde verleumdet, des Verrats bezichtigt und sogar zum Tode durch Erschießen verurteilt. Aber es wurde über die Angelegenheit nachgeforscht und er wurde aus dem Gefängnis entlassen. Vollkommen graue Schläfen, keine Schulterstücke, keine Orden, kein Koppel, die Uniformjacke schlappt… Er betrat das Zimmer, setzte sich hin und brach in Tränen aus. Nach dem Krieg war er angeschlagen. 1970 starb er, er wurde keine 67 Jahre alt… Die Mutter, eine Überlebende der Blockade von Leningrad, wurde 80 Jahre alt und verstarb 1982.

 

Schauspielerin, Erzieherin, Touristenführerin

Nach dem Krieg zersplitterte Nellis Leben in zwei Teile. Der erste ganz winzige Lieblingsteil war die Bühne, das Theater. Mit 12 Jahren tanzte sie schon eine Solorolle im Mariinski-Theater – die Puppe im «Nussknacker». Scheinbar hatte sie Glück. Aber das war nur einmal.

Buchstäblich nach zwei Monaten zog sich Nelli eine Lungenentzündung zu: Dreimal hintereinander. Dann erkrankte sie an einer Tuberkulose – das Ballett konnte man vergessen. Aus dem feuchten Leningrad brachte man das Mädchen nach Galitsch in der Oblast Kostroma, eine sehr alte Stadt, älter als Moskau. In Galitsch war die Tante für den Chor und im Grunde genommen für alles, was irgendwie mit Musik verbunden war, zuständig. Sie brachte der erwachsen werdenden Nelli die Tanzregie, die Inszenierung einzelner Szenen und dann ganzer Stücke bei. Mit 16 Jahren brachte sie z. B. die «Polowetzer Tänze» auf die Bühne.

1950 fand der Allsowjetische Wettbewerb der Kindervolkskunstgruppen statt. Das Abschlusskonzert im Moskauer Haus der Sowjets, das von Nelli eröffnet wurde («Glanznummer!»), besuchte unerwartet Stalin. Und Nelli musste noch das Gedicht von Issakowski «Ein Wort an Genosse Stalin» («Genosse Stalin, wie wir Ihnen glaubten, so haben wir nicht mal uns selbst geglaubt») vortragen.

Hier möchten wir wiederholen, dass Nelli nicht zur Bühnenkünstlerin wurde – sie schaltete innerlich auf die Regie um. Als sie aber mit 30 Jahren das Studium an der Fakultät für Regie des Leningrader Krupskaja-Kulturinstituts aufnahm, wurde ihr mit aller Deutlichkeit bewusst, dass dieser Zug auch schon fort war.

Und sie begann zu unterrichten, zumal sie das Pädagogische Institut (Fakultät für Geschichte) und das Institut für die Fort– und Weiterbildung von Lehrkräften absolviert hatte. Allerdings war die Vergütung so gering, dass sie neue Berufe lernen und nebenbei verdienen musste: Führungen machen, im Auftrag der Gesellschaft «Znanije» («Wissen») Vorlesungen halten. Während ihrer Tätigkeit als Touristenführerin machte sie nie zwei gleiche Führungen. 1989 begann sie bei der Gosstrach (Staatsversicherungsamt) zu arbeiten.

 

«Yid Schnauze!»

Eines Abends kam auf Nelli Jewgenjewna, der Russin dem Pass nach, in der Majakowski Straße ein ungefähr dreißigjähriger starker Bursche mit kurzem Haar zu, presste sie an die Wand und zischte, wobei ihm Alkoholgeruch und Hass vorangingen: «Raus, du, yid Schnauze, du, jüdische Fresse! Sowieso werden wir euch alle aus der Mitte herausbeißen».

Halbblut, Mischling, jüdische Fresse!

Nelli Jewgenjewna Pozner kam nach Hause, verschnaufte sich, fand die von der Synagoge ausgestellte Geburtsurkunde ihres Vaters – und ging schon am nächsten Tag ins deutsche Konsulat.

Im Antrag (man schrieb das Jahr 1995) gab sie das Bundesland Baden-Württemberg an – nur weil ein guter Bekannter von ihr auch dorthin auswandern wollte. Der Bekannte erhielt keine Genehmigung, aber sie schon, wenn auch nach etwas längerer Wartezeit – nur im Jahr 2000. So landete sie in Freiburg.

Sie kam hierher nicht alleine, sondern mit ihrem Ehemann Heino, einem Esten von der Nationalität. Damals schlossen viele Menschen Scheinehen mit Juden und Jüdinnen, um auszuwandern. Als der Konsul allerdings im Album mit ihren Fotos aus Estland blätterte und auf sie beide guckte, freute er sich nur für sie: In ihrem hohen Alter fanden die Menschen einander.

Der Israelitischen Gemeinde dürfte Nelli Pozner – die «Halbblut» und die «Yid Schnauze!» – nicht beitreten.