Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

EMIL JAKOWLEWITSCH ETLIS: GHETTO-NARBE UND TRÄUME VON BROT

(BUKAREST – KOSTJUSCHENY – GHETTO IN RYBNIZA – LWOW – KISCHINJOW – FREIBURG)

 

 

Rumänische Kindheit und Jüdisches Ghetto

Emil Etlis wurde 1936 in Bukarest geboren. Als rumänische Staatsbürger sprachen er und seine Mutter bis zum Kriegsbeginn ausschließlich Rumänisch.

Mutter, Basja Schmulewna Etlis, wurde 1901 in der moldawischen Stadt Bendery geboren, wo ihr Vater und Emils Großvater Weinbauer war. Basja schloss das dortige Gymnasium ab, ging an die medizinische Universität in Bukarest, absolvierte die Fakultät für Pharmakologie und arbeitete ihr ganzes Leben in Apotheken.

Emil, der einzige Sohn, hat seinen Vater nie gesehen, außer auf Fotos. Die Mutter erzählte nichts von ihm, und er fragte sie nicht aus. Genauer gesagt, versuchte er, etwas zu erfahren, aber die Mutter verkapselte sich sofort und wollte nichts sagen.

1940, als Moldawien sowjetisch wurde, siedelten viele Juden dorthin um. So landeten auch Emil und seine Mutter in Kischinew (Chișinău), wo Mama in einer Apotheke in Kostjuscheny, am Stadtrand, arbeitete: dort gab es einen regelrechten Krankenhauscampus…

Emil bemerkte sogar nicht, wie und wann Rumänisch im Gehirn von selbst «abschaltete» – er und seine Mutter wechselten irgendwie zu Russisch. Am 22. Juni begann der Krieg, Kischinew lag ganz nah an der Grenze, das Krankenhaus befand sich weit abseits; als Mama und Sohn den Koffer gepackt, einen Korb mit Lebensmitteln gefüllt hatten und zu fliehen beschlossen, war es schon zu spät. Es gelang ihnen, sich in den Zug hindurchzupressen, aber sie legten jedoch nur eine kleine Strecke zurück. Die Deutschen hielten den Zug an und unterbrochen die Fahrt. Alle wurden aus den Wagen hinausgeführt, in Reih und Glied aufgestellt und in irgendwelche Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe wurde unmittelbar vor den Augen der anderen erschossen: Selektion? Juden? Niemand verstand das, und alle waren verrückt vor Angst!

Der Koffer, der Korb und die Papiere blieben im Zug. Man führte sie lange irgendwohin, dann wurden sie in Fahrzeugen in unbekannte Richtung gebracht und letztendlich erreichte die Kolonne die Stadt Rybniza im Norden Moldawiens. Dort war bereits eine Menge Juden zusammengetrieben und ein Ghetto eingerichtet worden. Die meisten Ghettobewohner waren Frauen und Kinder, Männer gab es hier so gut wie keine, und wenn schon, dann alte oder körperbehinderte.

Эмиль Этлис (1972) / Emil Etlis (1972)

Die Fenster in der Baracke waren warum auch immer sehr hoch oben gelegt (oder kam es dem 4,5 Jahre alten Jungen nur so vor?). Die Wände waren mit Lehm bestrichen, man konnte sie ruhig mit den Nägeln kratzen. Emil schlief zusammen mit der Mutter auf einer Liegebank. Am Tag wurden die Erwachsenen (die Mutter natürlich auch) zur Arbeit weggebracht. Und die Kinder blieben in der Baracke – ohne Essen und ohne Aufsicht. Einmal setzten sich die Jungen entlang der staubigen Straße hin und bemerkten sogar nicht, wie auf sie ein Soldat zurannte und begann, sie alle mit einem Stock zu verprügeln. Als die Mutter am Abend zurückkam, war sie einer Ohnmacht nahe, aber sie als Medizinerin stellte doch dem blutbefleckten Sohn die Diagnose einer Gehirnerschütterung. Es gab keine Medizin, sie spülte irgendwie die Wunden und verband ihm den Kopf mit ihrem Tuch. Alles verheilte, aber es blieb eine Narbe im Kopfkrone zurück. Schon nach dem Krieg warnte ein Psychiater: Es könnte Schlaf-, Blutdruck– und Gedächtnisstörungen geben.

Am ehesten war dieser Soldat Deutscher. Obwohl Rumänen marodierten und drangsalierten, waren sie doch menschlicher: Sie hätten die Kinder nie so verprügelt.

Während des ganzen Krieges war Emil wahnsinnig hungrig. Und er dachte, dass es in Kischinew, wenn er dorthin zurückkehrt, eine Unmenge von Brot geben werde, mit dem er sich vollstopfen werde. Häufig träumte er – und träumt heute immer noch – nachts von Brot.

 

Evakuierung oder Ghetto?

Das Ghetto in Rybniza wurde erst im Frühling 1944 befreit. Kischinew war immer noch von den Deutschen besetzt, aber Anfang September endete die Besatzungszeit. Die Familie brauchte beinahe einen Monat, um von Rybniza ins vollkommen zerstörte Kischinew zu kommen. Sie lebten in einem Keller, aber es war unmöglich, in diesen Ruinen wieder Fuß zu fassen. Sie kehrten nach Kostjuscheny zurück, die Mutter wurde in demselben Krankenhaus und in derselben Apotheke angestellt, darüber hinaus bekamen sie die Wohnung zugewiesen, wo sie auch früher gewohnt hatten! Mama lebte in Kostjuscheny bis zu ihrem Tod im Jahr 1984.

Nach der Befreiung des Ghettos riet Mama ein Offizier aufs Eindringlichste, nirgends und niemandem zu erzählen, dass sie und ihr Sohn unter deutscher Besatzung, geschweige denn in einem Ghetto, gelebt hatten. Deswegen sagte und schrieb sie zuerst immer, dass sie in den Ural evakuiert worden waren. Einmal hörte sie irgendwo, dass Juden hauptsächlich in Taschkent lebten, und begann auch über sich und Emil zu sagen, dass sie in Taschkent gewesen waren. Als die beiden eine Bescheinigung über die Evakuierung brauchten, teilte das zentrale Rote Kreuz in Moskau auf Anfrage mit, dass es über keine Nachweise ihrer Evakuierung verfüge. Na ja… das war ja klar.

Aber einmal auf der Straße traf die Mutter einen Ghettobewohner, und sofort erinnerte sich Emil daran, was mit ihnen in der Tat wurde. Später schwitzte er sehr sogar, um diese Wahrheit nachzuweisen!

 

Sowjetische Karriere

Emil lebte in Kostjuscheny, bis er zum Militärdienst eingezogen wurde. Im Oktober 1956 wurde er einberufen. Er leistete den Militärdienst auf der Krim, in Kertsch, in der Schule für Junior-Luftfahrtpersonal. Dort hatte er großes Glück: Der Oberleutnant, der in Funknavigation in der Luftfahrt unterrichtete, und der Regimentsfunkingenieur erzählten so interessant über die Geräte, dass sie ihn für sein ganzes Leben mit dem Interesse an die und sogar mit der Liebe zur Funkelektronik ansteckten.

Nach der Entlassung aus dem Militärdienst im November 1958 heiratete Emil bereits nach einem Monat. Im Frühling bewarb er sich um einen Studienplatz an der Fakultät für Funktechnik der Polytechnischen Hochschule Lemberg. Trotz eines Missgeschicks bei der schriftlichen Aufnahmeprüfung in Mathe (wegen der Unkenntnis der ukrainischen Sprache verstand er die Aufgabe falsch) wurde er, der gestrige Rotarmist, immatrikuliert!

Beim Militär begegnete Emil übrigens nahezu keinen Juden, und am Institut war das Verhältnis zu ihnen normal. Er studierte immer gut, erhielt sogar ein Leistungsstipendium und erwarb sein Diplom mit Auszeichnung. Als er im dritten Studienjahr war, hörte er einmal per Funk, dass in Kischinew das Funkwerk «Signal» eröffnet wurde und dass es die erste Partie irgendwelcher Tonbandgeräte produzierte. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: «Vielleicht kann ich dort mein Ingenieurpraktikum ableisten?» In den Ferien kam Emil nach Kischinew und sprach mit dem Direktor des Werkes. Es stellte sich heraus, dass der Direktor die gleiche Hochschule absolviert hatte. Somit war das Praktikum für Emil und noch für zwei Kollegen gesichert. Nach dem Praktikum wurde Emil ein Arbeitsplatz im «Signal» zugewiesen, und er arbeitete dort bis 1992 – in diesem Jahr wurde das Werk stillgelegt.

Noch vier weitere Jahre war er in einem großen Fernsehgerätewerk tätig. Man produzierte komplizierte Sondergeräte, er hatte immer mit Seeleuten zu tun.

Alle wussten, dass Etlis Jude war, aber das spielte keine Rolle. Apropos: Im Werk arbeiteten viele Juden, sogar ein Abteilungsleiter war Jude. 1996 verließ Emil das Unternehmen und ging in Rente: Damals wurde sowieso kein Lohn gezahlt, alles brach zusammen.

Er arbeitete nur in der Funkschule der Freiwilligen Gesellschaft zur Unterstützung der Armee, der Luftstreitkräfte und der Flotte (DOSAAF), wo er einer Gruppe von Servicetechnikern im Bereich Elektronik Unterricht erteilte. In der Funkschule war er bis zur Abreise nach Deutschland tätig.

 

«Dann, lass uns nach deinem «Programm» auswandern»

Auf die Idee zu emigrieren kam nicht Emil, sondern seine Frau. Sie hat zwei Hochschulabschlüsse: Im Bereich Landwirtschaft (Agrarwissenschaftlerin, Obst– und Weinbau) und im Bereich Kultur (technische Bibliographie). Die Frau, von ihrer Herkunft her halb Russin und halb Deutsche, wollte bereits 1995 nach Deutschland auswandern, aber der Mann sträubte sich. Später, als beide schon weg wollten, stellte es sich aber heraus, dass Deutsche nicht mehr so gerne in die BRD aufgenommen wurden. «Na, wenn es so sein soll», meinte die Frau, «dann, lass uns nach deinem» Programm «auswandern».

Эмиль Этлис (2015) / Emil Etlis (2015)

Nach dem jüdischen Programm klappte alles gut, aber der deutsche Faktor wurde auch berücksichtigt. Die Vorfahren der Frau waren nach Russland aus Baden-Württemberg gezogen, und man war bereit, den Eheleuten entgegenzukommen, wenn sie den Wunsch geäußert hätten, in dieses Bundesland zurückzukehren. Außerdem lebten da einige Verwandte der Ehefrau, so dass sie schließlich tatsächlich in Baden-Württemberg aufgenommen wurden. So landeten die Eheleute – infolge einer solchen Überlappung der jüdischen und der deutschen Komponente – zuerst in Baden-Württemberg (Oktober 2001), und dann in Freiburg (April 2002).

Nach den deutschen Kriterien waren sie auch schon Rentner, deswegen brauchten sie keinen Job zu suchen. Die Zeit wird zwischen Fernseher und Computer geteilt, bei der Frau kommt noch das Lesen dazu. Emil besucht manchmal die Gemeinde, aber nicht so häufig: an Feier– und Versammlungstagen (ab und zu kommt auch die Ehefrau). In Kischinew war Emil nur einmal – im zweiten Jahr nach der Auswanderung.

Er hat immer noch gesundheitliche Probleme – er kann nicht schreiben und tippt alles am Computer. Sie kamen im Wohnheim am 26. April an, und am 11. Mai kam der Sohn. Bisher hatten sie sich jahrelang weder gesehen noch gehört – nur per Telefon. Der Sohn stellte einen PC auf, man kaufte einen Monitor und einen Drucker dazu, der Sohn brachte den beiden das Arbeiten am PC bei. So habe sich Emil mit dem PC angefreundet.

Der Sohn war sogar früher als die Eltern ausgewandert, aber nach Israel. Nach 5 Jahren siedelte er nach Kanada um, dort leben zwei große Enkeltöchter der Etlis. Die Tochter ist mit einem Dänen verheiratet und lebt in Dänemark. Sie hat einen kleinen Sohn.

Ab und zu kommen mal diese, mal jene nach Freiburg. Alles ist also in Ordnung.