Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

ARKADIJ HAIMOVITSCH WEINBERG:

«ES GIBT NOCH ZU SINGEN…»

(BALTA – GHETTO IN BALTA – ODESSA – FREIBURG)

 

 

Das Lied über ein Kleinkinderle

1918 musste das sowjetische Russland die Annexion Bessarabiens durch Rumänien verschlucken. Verschlucken hieß aber nicht wegstecken: am 12. Oktober 1924 schaffte die Sowjetunion ein Aufmarschgebiet für die Rückgewinnung Bessarabiens, indem sie innerhalb der Ukrainischen SSR die Moldawische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik mit Balta als Hauptstadt gründete. Am 2. August 1940 wurde diese Autonomie aufgelöst. An diesem Tag wurde Bessarabien wieder in die Sowjetunion eingegliedert, und es entstand die Moldawische SSR. Und Balta fiel an das Gebiet Odessa. Die Stadt zählte 20 Tausend Einwohner, von denen ein beträchtlicher Teil Juden waren.

In diesem Städtchen wurde am 10. Dezember 1938 Arkadi (Abram) Weinberg geboren. Mehrere Generationen seiner Vorfahren lebten in Balta. Zu Hause sprach man Jiddisch, in der Stadt – eine Mischsprache aus Jiddisch und Ukrainisch, der sich die meisten Stadtbewohner bedienten.

Die Familie von Arkadi war nie gläubig, zudem gab es in der Stadt keine Synagoge, aber zu Pesach gab es immer «gefilte Fisch» und Mazza. Gewerbe wurden vom Markt diktiert: Der Großvater Benzion Tabatschnik war handwerklicher Geschirrmacher sowie Maßschuhmacher. Die Großmutter Keyla, die Krankenschwesterkurse absolvierte, übte ein für die Jüdin ziemlich überraschendes Gewerbe aus: Sie betrieb Hauswirtschaft, züchtete u.a. Schweine und verkaufte Fleisch und Fleischprodukte an Nichtjuden.

Davon ernährte sich die Familie.

Den Großvater väterlicherseits – Noah – hat Arkadi nie gesehen (er war früh verstorben), an die Großmutter Sosja dagegen kann er sich gut erinnern: Die Familie wohnte eigentlich in ihrem winzigen Dreizimmerhäuslein.

Vater und Mutter, Chaim und Rachel, waren gleichaltrig: sie wurden 1915, d.h. inmitten des Krieges geboren. Beide waren 23 Jahre alt, als ihr Erstling – Abram – zur Welt kam. Die Mutter nannte den Vater warum auch immer Juri, und den Sohn – Arkadi. Nach dem Schulabschluss sah er nicht ohne Überraschung in seinem Zeugnis schwarz auf weiß seinen eigenen Namen: «Abram Chaimowitsch».

In Balta war kein Antisemitismus zu spüren. Den Weinbergs gegenüber wohnten Altgläubige, und nur einer von ihnen sah die Juden krumm an.

Der Vater beendete eine elektrotechnische Fachschule und war ein erstklassiger Elektriker und Automechaniker. Kurz nach Kriegsbeginn wurde er zum Wehrdienst eingezogen und gehörte während des gesamten Krieges den Kampftruppen an, wo er bei Wiederherstellung und Instandsetzung von Kraftfahrzeugen seinen Einfallsreichtum zur Geltung brachte.

Als die Wehrmacht begann, gefährlich nahe an Balta heranzutreten, setzte der Großvater die gesamte Familie auf ein Fuhrwerk und begab sich zusammen mit abrückenden Rote-Armee-Truppen gen Osten. Aber Deutsche holten die Flüchtlinge ein, und die Weinbergs mussten nach Balta zurückkehren. Demnächst richteten hier die Besatzer ein Getto ein, und die ganze Familie zog in ein Haus in der Kusnetschnaja Straße. Jedes seiner Zimmer beherbergte mehrere jüdische Familien. Als Flüchtlinge aus Bessarabien ankamen, wurden sie auch in diesem Haus untergebracht.

Arkadi war nur 2,5 Jahre alt, aber einige eindrucksvolle Vorkommnisse gruben sich in sein Gedächtnis ein. Erstes Vorkommnis: Die Tür öffnet sich, und in der Türöffnung erscheint ein deutscher Offizier, er trägt eine Schirmmütze mit Emblem. Auf dem Bett liegt ein Junge mit einem Tuch um den Hals und spielt einen Kranken vor, wie die Erwachsenen es ihm beigebracht haben. «Was ist mit ihm los?», fragt der Deutsche. «Typhus», meint man zu ihm. Die Tür schließt sich augenblicklich, und die Deutschen machen sich in aller Eile davon. Sie hatten eine Riesenangst vor Typhus.

Noch eine Episode: Eine nächtliche Razzia. Man hört Lärm und die deutsche Sprache. Als die Soldaten ganz nah waren, versteckte die Mutter den Sohn unter dem Bett und rannte, um die Deutschen abzulenken. Sie rannten ihr nach und schossen auf sie. Zum Glück begab sie sich in Richtung Gemüsegärten, fiel in einen der Schützengraben, und die Nazis glaubten, sie getötet zu haben. Als alles vorbei war und Stille eintrat, kam die Mutter nach Hause zurück, holte den Jungen unter dem Bett hervor und beruhigte ihn. Solche Nächte erlebte Arkadi damals im Ghetto. Er erinnert sich immer noch daran.

Noch ein Vorfall ereignete sich kurz vor Kriegsende. Alle Bewohner des Hauses versammelten sich im größten Zimmer. Plötzlich hörten sie lautes Gekracht und Klopfen an den Türen und Fenstern. Alle warfen sich zu Boden. Die Soldaten – es waren Rumänen – beginnen, die Fenster zu beschießen. Im Zimmer liegt eine aus den Angeln gehobene Innentür auf dem Boden. Die Oma lehnt diese Tür an die Wand und versteckt das Kind dahinter. Ein alter Jude, der Rumänisch kann, geht nach draußen und verhandelt mit den Soldaten. Nach einer Zeit kommt er zurück und meint,man müsse ihnen etwas geben. Jeder gibt, was er kann – freigekauft!

Einmal verschwand der kleine Abram. Es dauerte eine Weile, bis man ihn auf einem Markt fand, wo jüdische Frauen allerlei Selbstgemachtes, Selbstgebackenes wie Brötchen, Piroggen und alles Mögliche verkauften. Als die Mutter angerannt kam, bot sich ihr folgendes Bild: Ihr Sohn steht von vielen Frauen umgeben und singt jüdische Lieder! Die Frauen um ihn herum weinen und schenken ihm, was sie können.

Die Mutter, die schon deswegen glücklich, dass ihr Sohn gefunden wurde, geht mit ihm nach Hause.

Die Wörter des schönsten Lied hat Abram schon vergessen, nur die Melodie und den Anfang hat er noch in Gedächtnis: Es ginge da um ein kleine «Kinderle»…

Inzwischen begannen die Deutschen abzuziehen, und die sowjetische Armee näherte sich Balta. Man hörte schon Kanonendonner aus der Ferne. Das Haus in der Kusnetschnaja Straße stand leer: Alle hatten Angst davor, an den letzten Besatzungstagen hingerichtet zu werden, und versteckten sich. Die einen Hausbewohner stiegen in den Keller hinab, die anderen (unter ihnen die Weinbergs) stiegen auf den Dachboden hinauf.

Аркадий Вайнберг во Владимире-Волынском – рядовой музыкального взвода (1959) / Arkadij Weinberg in Vladimir-Volynskij – Soldat des Musikzuges (1959)

Durch das Fenster konnte man sehen, wie ein Partisan vor das Haus angereitet kam. Er trug keine Uniform, hatte ein Gewehr hinter dem Rücken und trug eine Mütze mit schräg verlaufendem rotem Streifen. Der Partisan machte einen Bravourritt, blickte herum und jagte fort. Niemand der Ghettobewohner eilte ihm entgegen. Kurz danach traten reguläre Truppen in die Stadt ein, und die Freude der Ghetto-Gefangenen war grenzenlos. Sie überlebten, sie blieben verschont – drei Jahre voller Angst sind vorbei, jetzt brauchen sie niemanden mehr zu fürchten, können ruhig durch die Straßen gehen und sich dort niederlassen, wo es ihnen passt.

Aber der Krieg dauerte fort: Es blieb noch ein ganzes Jahr bis zum Sieg. Es kam ein Brief vom Vater: Er sei am Leben, er kämpfe, und das war eine große Freude. Dann erlebten sie diesen unvergesslichen Tag mit. Mitten in der Nacht begann man zu schießen, die Leute liefen herum und riefen: «Der Sieg, der Sieg ist da!»

Als der Vater nach ein paar Monaten demobilisiert wurde und nach Hause zurückkehrte, wendete sich alles allmählich zum Guten. Obwohl die Erinnerungen ans Ghetto nicht verblassten, rückten sie in den Hintergrund. Der Vater brachte aus dem Krieg eine Geige, und ein alter Violinist brachte Abram das Geigenspielen und Notenlesen bei.

Nach dem Krieg leitete der Vater ein Kraftwerk: er baute es wieder auf und setzte es in Betrieb. Dann wurde er zum Leiter eines Betriebs für Aufkauf von wiederzuverwertenden Schwarzmetallen, dann zum Leiter eines Brennstofflagers eingestellt.

Er begann sogar etwas mehr zu verdienen.

Nach Schulabschluss ließ sich Arkadi an der technischen Fachschule Odessa immatrikulieren und machte eine Ausbildung zum Former und Gießer: Gießer verdienten angeblich gut. Nach Ausbildungsabschluss arbeitete Abram in einem Werk. Bald erhielt er die Einberufung zum Pflichtwehrdienst. Im Fragebogen gab Abram an, Geige spielen zu können und Noten zu kennen. Den gesamten Wehrdienst, den er von 1957 bis 1960 in Deutschland und in Wolodymyr-Wolynskyj ableistete, verbrachte er nicht in einem Panzer, sondern in Miltärorchestern. Er spielte Flöte und Schlaginstrumente…

Nach der Demobilisation ließ er sich wieder an einer Fachschule immatrikulieren lassen, diesmal an der Fachschule für Musik, Studiengang: Chordirigent. Er spielte Gitarre, sang, arbeitete in diversen Vokal– und Instrumentalensembles von Odessa und verdiente als Straßenphotograph etwas dazu – er war immer in Geldnot.

Seine künftige Frau lernte Weinberg im Jahr 1974 kennen. Sie war Krankenschwester und arbeitete in einer Poliklinik. Nach vier Jahren kam ihre Tochter zur Welt, später wurde der Sohn geboren.

 

Taxifahrer mit Gitarre

Als Juden die Möglichkeit bekommen haben, frei auszuwandern, begann die Familie ihren Umzug nach Israel vorzubereiten. Sie hatten bereits die Genehmigung, aber es begann der Irak-Krieg, und sie haben beschlossen, abzuwarten.

Als es vom Hörensagen bekannt wurde, dass Deutschland jüdische Zuwanderer aufnehmen wird, beantragten sie gleich eine Einreisegenehmigung. Im deutschen Konsulat in Kiew mussten sie sogar keine Schlange stehen: Dank Abrams Bescheinigung über seine Ghetto-Gefangenschaft durfte die Familie ohne Schlangestehen durch. Das Visum wurde fantastisch schnell erteilt: Die Wartezeit betrug nur drei Monate. Die Vorbereitungen zur Auswanderung wurden sehr schnell getroffen – schon am 23. Januar 1992 saßen sie nahezu ohne Gepäck im Flugzeug, nachdem sie geschafft hatten, den Flug sehr günstig zu bekommen. Abrams Mutter war aber nicht dabei: Sie starb im November 1991 im Alter von 76 Jahren.

Der jüngere Bruder blieb in der Ukraine. Als er sich später zur Auswanderung entschloss, musste er vier Jahre lang auf sein Einreisevisum warten (jetzt lebt er auch in Freiburg).

Sie verließen ihre Heimat ohne jeden Zweifel und ohne Reue: 1991 war die wirtschaftliche Lage in Odessa katastrophal. Aus Frankfurt-am-Main mussten sich die Weinbergs ins Aufnahme– und Verteilungslager Esslingen bei Stuttgart und von dort aus nach Weil am Rhein begeben. Erst im April 1992 zogen sie ins Wohnheim im Freiburger Stadtteil Kappel. Acht Monate lang besuchten sie Sprach– und Integrationskurse. Dabei war Jiddisch für Arkadi ein Hindernis und eine Hilfe zugleich. In der Schule lernte er Französisch und – ganz nominell – Deutsch, das er im Endeffekt nicht beherrschte. In Deutschland war seine Zielsetzung klar und eindeutig: Er braucht einen Job, deswegen muss er Deutsch lernen!

Seine berufliche Laufbahn begann schon im Juni 1993: Ein Jahr lang arbeitet er als Assistent eines Installateurs.

Als sich Abram sein erstes Auto kaufte, setzte er es sofort zum Zweck seiner Laufbahn ein. Weinberg lieferte Pakete, Mittagsmenüs, Pizzas aus. Dann bestand er die Taxiunternehmerprüfung und saß 20 Jahre lang hinter dem Lenkrad. Abram war ein guter Taxifahrer: Er war stadtkundig, kannte selbst die kleinsten Sackgassen, und war immer bereit, mit dem Fahrgast Small Talk zu führen (selbstverständlich auf Deutsch).

Taxifahrer verdienen wenig und haben entsprechend geringe Renten, aber Arkadi hielt die Ohren steif und ging immer wieder Nebenjobs nach. Die Hauptsache ist, er verdient sich seine Brötchen selbst, statt sie vom Staat geschenkt zu bekommen.

Die Kinder sind schon groß geworden. Die Tochter machte eine Ausbildung als Friseuse und ist im Moment in einer Handelskette tätig. Der Sohn ist Webdesigner und führt sein eigenes Unternehmen, das nur ihn und seine Frau beschäftigt. Sie sind nach Bulgarien umgezogen, denn sie fanden es schön dort.

P. S. Ich habe dieses Interview mit Arkadi Weinberg im Foyer der Freiburger Synagoge gemacht, wo er zu einer Gemeindechorübung erschien. Neben ihm stand seine Gitarre im Koffer. Als wir fertig waren, lächelte er mit seinem einzigartigen weichen Lächeln und sagte, indem er mir die Hand reichte: «Ich gehe jetzt. Ich muss noch singen…»