Eduard Berditschevskij wurde im Oktober 1939 in Schitomir geboren. Genauso wie sein ältere Bruder Leonid.
Nur keiner von seiner Eltern stammte aus Schitomir. Sein Vater, Sinovij Berditschevskij, (1906–1989) wurde in Solotonoscha geboren, wo sein Vater Tischler und war Master aller Gewerke. Die Mutter, Hanna Peysachowna Lestschinskaja (1908–1949), die gebürtige Kiewerin. Ihre Eltern wohnten auf der Jaroslawer Straße in einer kleinen Dreizimmerwohnung, der Großvater war Kantor in der Synagoge auf der Meschigorskaya Straße.
Der Vater lernte die Mutter während des Studiums im Institut für Bautechnik kennen. Bald darauf heiraten beide. Nach Abschluss des Instituts wurde der Vater nach Schitomir geschickt, wo ihre beiden Söhne geboren wurden.
Doch war der Vater am 22. Juni 1941, als der Krieg mit Deutschland ausbrach, schon in der Roten Armee, als Militäringenieur. Noch am Vorabend der Krieges gegen Finnland wurde er einberufen und an die Westgrenze zum Bau von Flugplätzen und Flugstützpunkten geschickt.
Schitomir wurde inzwischen fast schon am ersten Kriegstag bombardiert. Die Mutter packte voller Panik Ihre Söhne und eilte zu ihren Eltern nach Kiew. Dort gab es eigene Panik, Kiew wurde auch reichlich bombardiert. Sich evakuieren zu lassen wurde fast unmöglich, ihnen half vielleicht die Stadtkommandatur, die Familien der an der Front kämpfenden Rotarmisten unterstützte. Schließlich bestiegen alle Berditschevskij's einen Güterzug, der sie unter ständigen Luftangriffen nach Osten in tiefen Hinterland transportierte, weg von Babij Jar. Auf dem Weg dorthin blieb die Mutter auf der Suche nach heißem Wasser vom Zug zurück, aber danach schaffte sie irgendwie ihren Zug wieder zu finden. Die Freude war grenzlos.
Der zweijährige Junge konnte sich natürlich nicht an alle Einzelheiten der Flucht und des Erlebten erinnern. Die Berditschevskij's und die Leschinskij's (Großmutter und Großvater mit Tante) wurden nach Alma-Ata evakuiert und von dort in die Kleinstadt Kaskelen weiterbefördert. Die Gegend selbst war sehr schön, in der Ferne schimmerten die schneebedeckten Gipfel des Alatau.
Hier, in Kaskelen wurden sie in der Familie eines kasachischen Milizionärs untergebracht, der sie praktisch rettete. Es gab auf seinem Hof allein stehendes Provisorium, eine Lehmhütte jedoch mit Ofen! Man konnte in ihr überwintern. Und dazu bekam man dort ein sogenanntes Attestat von Vater, ein Teil seines Gesamtgehaltes.
Betont werden muss es, dass auch die übrigen ansässigen Kasachen sie freundlich aufnahmen und sie sogar mit Obst und Gemüse versorgen. Von Antisemitismus keine Spur.
Einmal fiel Edik unglücklicherweise beim Vorbeigehen in einen Aryk (Abflussgraben) und brach sich das Bein. Im Feldlazarett, wo sich viele an der Front Verwundete befanden, heilte man die Bruchstelle. Die Verwundeten kamen zum Jungen, unterhielten sich mit ihm. Der Junge sammelte eine ganze Anzahl von Verwundeten hinterlassen Zigarettenschachteln der Marke «Kasbek». Der Junge dachte sich verschiedene Spiele mit ihnen aus und beschäftigte sich gerne mit diesen Spielen.
In der Zwischenzeit kämpfte der Familienoberhaupt, Hauptmann Berditschevskij, in seinem Ingenieur-Bataillon, ständig an vorderster Front der Jahre 1941/1942. Während der Schlacht um Stalingrad wurde er am Kopf verwundet und ins Hinterland gebracht. Nach seiner Genesung kehrte er an die Front zurück, wo Angriffsoperationen nun wesentlich günstiger verliefen als Rückzugsgefechte.
Nach der Befreiung von Warschau und anderer polnischer Gebiete wurde er in Polen aufgehalten, wo auch der Krieg für ihn zu Ende ging. Seine Armeeeinheit wurde zu polnischen Streitkräften abkommandiert. Sie halfen bei der Räumung von Minen und anderen Aufgaben der Pioniereinheiten.
Anfang 1946 wurde die englische Königin «ausgezeichnet». Sie schenkte allen sowjetischen Offizieren, die mit der polnischen Armee zusammengearbeitet hatten, ein großes Stück Kleidungsstoff aus hochwertigem Stoff «Boston». Dieses Stück war das einzige, was der Vater von der Front nach Hause mitbrachte.
Als man den Kiewern die Rückkehr in ihre Heimatstadt gestattete, kehrten die Berditschevskij's und Leschinskij's in die stark zerstörte Stadt zurück. Ihre Haus und Wohnung wurden glücklicherweise unversehrt geblieben, aber dort lebten jetzt die andere Bewohner. Einer der Neumieter pochte arrogant nicht nur auf sein Bleiberecht, sondern auch auf seine physische Stärke gegenüber zwei alten Männern, zwei Frauen und zwei Kindern (Der Mann war in der Besatzungszeit als Polizei aktiv). Und die Mutter konnte ihn gegenüber nichts tun. Als jedoch der Vater aus der Armee zurückkehrte, wurde der Mann sanft und kleinlaut, bis er dann für immer ausquartiert wurde.
Der Vater, ein Armeebauingenieur, kehrte in das verwahrloste Kiew zurück, wo buchstäblich alles wiederaufgebaut werden musste, angefangen von der Kanalisation (Toiletten befanden sich auf dem Hof, wie zuvor im Dorf) bis zur Stromversorgung. Es mangelte nicht nur an einfachen Arbeitskräften, sondern auch an qualifizierten Spezialisten. Er fand schnell eine interessante Tätigkeit auf dem Gebiet der Energiewirtschaft, zuerst als Bauingenieur, dann als Abteilungsleiter.
Die Mutter starb leider bald – zu Beginn des Jahres 1949. Sie schaffte es noch ihre beiden Söhne, den 7-jährigen Edik und den 11-jährigen Leonid, der in Kaskelen zur Schule nicht gehen konnte, gleichzeitig einzuschulen. Aus dem königlichen Stoff «Boston» wurden beiden Kindern ausgezeichnete Hosen geschneidert.
Nach dem Schulabschluss folgte Eduard dem Vorbild seines Vaters: Die militärische Karriere – nur, Gott sei Dank, ohne Kampferfahrung. Als er 18 Jahre alt wurde, trat er in eine Militäschule, die er las junger Leutenant absolvierte. Danach trat er die Militar-Ingeneur-Akademie in Leningrad: Unter 500 Neulinge gab es nur 4–5 Juden.
Noch davor, in 1961, anstatt zu Eintrittsprüfungen vorzubereiten, kam Eduard nach Kiew an und verlebte sich in Valentina Beschinova, eine Studentin des Kiewer Instituts der Volkswirtschaft. In 1963 wurde sie nach Leningrad überwiesen. Bald haben sie in Liebe geheiratet, und 1965 haben sie eine Tochter Anna bekommen.
Als Eduard die Akademie absolvierte, bekam er die Anweisung für Marine am Pazifischen Ozean. Zuerst nach Petropawlowsk-Kamchatskij, danach nach Wladiwostok. Wegen der Krankheit von Tochtet wurde er aus dem Fernen Osten nach Severomorsk versetzt, wo er als Hauptingenieur in einem Projektierungsinstitut diente.
Эдуард Бердичевский / Eduard Berdichevskij (2010)
Es gab nur wenige Juden im Institut, aber ab und zu – insbesondere im Bezug von politischen Krisen im Nahen Osten – wurde er sowieso in sogenannte «Erste Abteilung» aufgefordert um immer die gleichen Pflichtfragen zu beantworten: «Haben Sie Verwandten in Israel? Sprechen Sie Jiddisch? Und Hebräisch?..» usw.
Ende 1980er zog sich die Familie wieder nach Kiew um. Dort war Eduard ein Vize-Direktor eines großen militär-industriellen Unternehmens: Guter Gehalt, gute Rente. Aber als Anfang 1990er alles, inklusive Panzererzeugung gefallen wurde, und 3500 Arbeiter wurden über Nacht entlassen, verlass Eduard das Unternehmen selbst. Und bedauerte es nie!
Einer der seiner Freunde, der Direktor der Musikschule war, lud ihn zu sich ein, als einfache Wacher zu arbeiten. Und dadurch ist die glücklichste Zeit in Eduard’s Leben entstanden – beste Musik, bestes Publikum, ein sehr gutes Milieu!
Nur materiell war es schwer, die Entscheidung über die Emigration schlug also selbst vor! Aber wohin? Die Tochter meinte: «Papa, entweder nach Russland oder nach Deutschland!». Und kurz danach, nachdem sie Russland unter die Lupe ansah, korrigierte sie sich etwas: «Papa, nur nach Deutschland! Es wird besser für uns alle».
Entschieden wurde es 1996, und 2001 kamen Eduard und Valentina nach Freiburg. Neulich waren beide eingebürgert!
Nur ihre liebste Tochter, die alles so deutlich in ihrem Schicksal definierte, – sie selbst… blieb in Russland! Nach der Hochschule in Arсhangelsk kam sie mal nach Kiew, um die Eltern zu besuchen, und dort, in Kiew, hat sie einen jungen Mann kennengelernt, der genauso wie sie, aus Russland nach Kiew zu seinen Eltern kam! Drei Tagen später kam der junge Mann zu Berditschevskij's, um um die Hand ihrer Tochter zu bitten.
Es stellte sich heraus, dass auch er ein ehemaliger Armeeangehörige ist, sein Wehrdienst verrichtete er hinter Krasnojarsk. Nach der Entlassung fand er ein gutes Job in Moskau, und jetzt, in Kiew, fand er auch seine Liebe und Frau. Ist das nicht süß?
Leider, dauerte das Glück nicht zu lange. Die Tochter wurde schwer krank. Und, obwohl sie doppelt so lange als die besten Versprechungen der Ärzte leben konnte, verstarb sie vor einigen Jahren, im Alter von noch gar keine 50 Jahre alt. Alle drei Enkelkinder sind in Moskau: Einer absolvierte die Lomonosov Universität, zweiter – studiert dort und dritte – überlegt noch, was zu tun.
Ein neues Leben im Alter von 62 Jahren zu beginnen war nicht leicht. Man musste die deutsche Sprache lernen und sich in eine fremde Gesellschaft integrieren. Eduard und Valentina wandten hierfür alle Mühe auf.
Hier entdeckte Eduard etwas für ihn ganz Wichtiges und Unerwartetes. Er drückt es so aus: «Ich entdeckte für mich die Synagoge». Diese neue Lebensseite diszipliniert ihn und hilft die Schicksalsschläge zu überstehen. Und solche Schläge gab es auch in seiner Freiburger Zeit. Begegnungen mit interessanten Menschen, Vorlesungen, Ausflüge, Konzerte, Besuche anderer Gemeinden unseres Landes, die der Vorstand regelmäßig durchführt, erweitern unseren Horizont.
Vor Freiburg war er, ein Enkelkind des Kiewer Kantors, noch nie in einer Synagoge gewesen! Die Familie seines älteren Bruder Leonid ist schon längst in Israel, nur Leonid selbst blieb in Kiew, schloss sich der jüdischen Gemeinde ein und lebt auch mit der Gemeindeinteressen. Ihr Großvater, Pejsach Leschinskij, hätte sich darüber sehr gefreut!