Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

ELI KLIGLER: «BIN ICH ETWA NICHT AUCH EIN RUSSISCHER JUDE?..»

(CZERNOWITZ – CÂMPULUNG – BEER SHEVA – MÜNCHEN – FRANKFURT AM MAIN – FREIBURG)

 

 

In Rumänien und der UdSSR

Väterlicherseits stammt die Familie von Eli Kligler aus Czernowitz, mütterlicherseits – aus Wien. Im 19. Jahrhundert befanden sich die beiden Städte in demselben Land, genau gesagt in demselben Kaiserreich – in Österreich-Ungarn. Seit damals haben die beiden Städte auf den Wellen der Geschichte ziemlich wild geschaukelt: Wien unterstand einem deutschen Gauleiter, Czernowitz wurde sowohl vom rumänischen König als auch von einem sowjetischen Sekretär des Gebietskomitees regiert. Aber selbst während der sowjetischen Periode wurden weder das deutsche noch das jüdische Leben in Czernowitz unterdrückt.

Der Großvater von Eli, Israel Eliyahu Kligler, wurde in Czernowitz geboren, wo er auch verstarb. Dort war er ein Mann von Ansehen – ein Industrieunternehmer und Gabbai in der Großen Synagoge. Juden machten damals fast die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. Sie sprachen sowohl Jiddisch als auch Deutsch. 1894 kam in Czernowitz der Vater von Eli Kligler – Wilhelm – zur Welt, und 1901 erblickte in Wien seine Mutter – Henriette – das Licht der Welt. 1921 heirateten sie, 1922 wurde ihr Erstling Leopold geboren – der einzige und ältere Bruder von Eli.

Als Czernowitz 1939 von der UdSSR annektiert wurde, erstellten die sowjetischen Machthaber diverse Listen, unter anderem die Liste der prominentesten Juden, die nach Sibirien abgeschoben werden mussten. Der Name seines Vaters stand auch auf der Liste, man fand ihn aber nicht und holte an seiner Stelle seinen Bruder zusammen mit dessen Frau. So entging Elis Vater der Deportation nach Sibirien, aber es ist eine große Frage, wem von den beiden ein größeres Glück widerfuhr.

Im Januar 1941 kam Eli zur Welt, und nach einem halben Jahr stießen deutsche und rumänische Truppen nach Osten vor. Nachdem die Deutschen unterwegs Czernowitz besetzten, richteten sie hier wie meistens ein Ghetto ein. Das Elternhaus der Kligler lag auf dem Ghettogelände, und darin drängten sich alle ihre Verwandten aus anderen Stadtteilen zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Deutschen bereits verboten, jüdische Flüchtlinge aus Polen aufzunehmen. Als zwei polnische Verwandte der Kligler zum Vater kamen und ihn um Zuflucht baten, sagte er ab – sowohl wegen des Verbots als auch weil das Haus schon sehr voll war. Dann denunzierten diese «netten» Menschen den Vater bei der Polizei, indem sie mitteilten, dass in seinem Haus polnische Flüchtlinge lebten. Der Vater wurde verhaftet und brutal verprügelt. Um ihn aus dem Knast freizukaufen, machte die Mutter alle ihre Wertsachen und Pelze zu Geld – und der Vater wurde freigelassen! Er war aber kaum wieder zu erkennen: Ein einst erfolgreicher und wohlhabender Unternehmer war zu einem durch die erlittene Misshandlung zerdrückten und armseligen Invaliden geworden.

Sehr viele Juden wurden aus Czernowitz nach Transnistrien deportiert, und die meisten von ihnen kamen dort ums Leben. Den Kliglern gelang es aber, alle Gräuel des Ghettos zu überleben und der Abschiebung zu entfliehen. 1944 kamen die Russen nach Czernowitz. Ein starker Eindruck aus der Kindheit: Sowjetische Panzer rollen über die Straßen, der 4-jährige Junge steht zusammen mit seiner Mutter abseits – und die Erde bebt unter seinen kleinen Füßen.

Schon 1945 beschlossen die Eltern von Eli, ohne auf das Ende des Krieges zu warten, auch vor diesem System zu fliehen. Mit Hilfe sympathischer ukrainischer Begleiter überquerten sie illegal die sowjetisch-rumänische Grenze. Aber an der Grenze geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes: Die Ukrainer hörten auf, nett zu sein, und nahmen ihnen alles weg, was sie dabei hatten, bis auf die Leibkleidung. In solchen Fällen pflegt man zu sagen: «Man hat kein Hemd auf dem Leib». Aber man hatte auch etwas, worüber man sich freuen konnte: Die Kligler waren am Leben und kamen dort an, wo sie immer hinwollten – in Rumänien.

Sie verblieben in der Bukowina, in der Stadt Vatra Dornei in ihrem rumänischen Teil (Czernowitz war die Hauptstadt der Nordbukowina, die der UdSSR angehörte), und machten sich letztendlich in Câmpulung sesshaft, wo die Schwester des Vaters lebte. Der Vater versuchte, einen Job zu finden, aber in dem jämmerlichen Zustand nach dem Knast konnte er nur als Nachtwächter tätig sein. Mutter Eli musste Familienernährerin werden: Sie fand Arbeit als Buchhalterin bei einer Firma. Das kleine Häuschen, in dem sie wohnten, bestand aus einem Zimmer und einer Küche.

Die Familie hörte lange nichts vom älteren Sohn, und er kämpfte inzwischen in der Roten Armee gegen die verhassten Deutschen. Während des Krieges war er in einem rumänischen Arbeitslager inhaftiert, aber dann gelang es ihm, zu fliehen und auf die Seite der Reichsfeinde zu überwechseln. Zuerst war er Sanitätswagenfahrer, dann Dolmetscher bei den Vernehmungen deutscher Gefangener: Die deutsche Sprache beherrschte er – wie übrigens alle seine Landsleute aus Czernowitz – genauso gut wie die Muttersprache (hier reicht wohl ein Hinweis auf Paul Celan).

Sobald der Bruder vom Militär entlassen wurde, kam er nach Czernowitz. Seine Familie war nicht mehr da, aber er wusste, dass sie am Leben blieben, und vermutete, dass sie sich in Rumänien aufhielten. Er selbst verblieb in Czernowitz und heiratete dort. Die Familie erfuhr, dass er am Leben war, erst Anfang der 50er Jahre, als ein normaler Briefverkehr wieder möglich wurde, und 1956, nach 10 Jahren, erhielt die Mutter zum ersten Mal die Erlaubnis, nach Czernowitz zu kommen, um ihren Sohn wiederzusehen und seine Familie kennenzulernen. In Czernowitz siedelten sich wieder Juden an, aber es waren ganz andere Juden – russische Juden, die überwiegend aus Moldau und der Ukraine gekommen waren.

Ende der 1950er kehrte der deportierte Bruder des Vaters endlich nach Czernowitz zurück. 20 Jahre lang lebte er mit seiner Frau in einem Dorf in Sibirien. Das Leben war unglaublich schwer, aber dort ermordete niemand Juden nur deswegen, weil sie Juden waren. Anfang der 60er Jahre besuchte er den Bruder in Rumänien und lernte seinen Neffen kennen.

Эли Клиглер / Eli Kligler

Während der ältere Bruder, wie man so sagt, «mit einem goldenen Löffel im Mund» geboren worden war und in der Kindheit alles hatte, kam Eli kurz vor Kriegsbeginn zur Welt und wuchs unter sehr bedrängten Verhältnissen auf, denn seine Eltern hatten inzwischen nichts.

Er absolvierte die Schule im rumänischen Vatra Dornei, aber als Jude durfte er keine Universität besuchen. In Câmpulung gab es aber eine Schule für Holztechnik, bei der Eli dann seine Unterlagen einreichte. Der Schulsekretär, ein Rumäne, erwies sich als anständiger Mensch. Er verlangte von Eli eine schriftliche Erklärung darüber, dass er nicht beabsichtige, nach Israel oder sonst wohin aus Rumänien auszuwandern. Dann fügte der Rumäne hinzu: «Die Erklärung wird in meiner Tischschublade liegen, bis jemand danach fragt. Dann werde ich sie vorlegen müssen. Alles steht in deiner Verantwortung». So war es auch eigentlich. Eli absolvierte diese Schule, wurde Förster und arbeitete ein paar Jahre in der rumänischen Waldwirtschaft.

 

In Israel und Deutschland

Nach dem Tod des Vaters 1962 entschied sich seine Witwe, Elis Mutter, für die Auswanderung nach Israel. 1964 kam die Einladung an, und in demselben Jahr emigrierten sie. Mutter und Sohn wurden nach Beer Sheva verteilt, dort begann Eli, im Ulpan Hebräisch zu lernen. 5 Tage die Woche, 5 Stunden am Tag. Und nach sechs Monaten sprach er schon Hebräisch. Er fand einen Job beim Jüdischen Nationalfonds – einer in der Wiederaufforstung tätigen israelischen Organisation.

Im Innersten zweifelte Junior Forstfachmann Eli sogar stark daran, dass man die Negev-Wüste in etwas Karpatenähnliches umwandeln konnte. Bald überzeugte er sich aber davon, dass dies durchaus möglich war – und ausgerechnet in der Gegend von Beer Sheva braust heute Israels größter Forst.

Alles war einwandfrei geplant, nur Hügel wurden beforstet, zum Ackerbau geeignete Talgebiete wurden unbepflanzt gelassen, und später kamen dorthin die Ansiedler. Sie bauten drei Siedlungen und legten riesige Weintraubenplantagen an – nun gelten die Weine aus dem Yatirwald als die besten in Israel.

1985 verstarb die Mutter von Eli in Beer Sheva. Eli selbst arbeitete 25 Jahre lang – von 1964 bis 1989 – beim Jüdischen Nationalfonds. Gleichzeitig studierte er fern und erwarb einen Bachelor in Volkswirtschaftslehre und einen Master in Management. Zu diesem Zeitpunkt war Eli ein Familienmann und hatte vier Kinder.

1989 lud ihn der Fondsdirektor zu einem Gespräch ein und schlug ihm vor, nach Deutschland, und zwar nach München, als Gesandter und Vertreter des Jüdischen Nationalfonds in Bayern und Baden-Württemberg zu gehen. In dieser Eigenschaft musste er vor allem Werbung für den Fonds machen und Fundraising (d.h. Spendensammlung) betreiben. Nach drei Jahren in München war Eli drei Jahre lang in Frankfurt tätig, wo er schon für ganz Deutschland zuständig war. 1995 (nach zwei Kadenzen) kehrte Eli nach Israel zurück. Er hatte zwei Optionen: entweder er arbeitet beim Fonds unter der Leitung seines ehemaligen Untergeordneten oder er geht in Rente. Und er entschied sich für Letzteres.

Nach einem Jahr bekam er einen Anruf aus Deutschland: ihm wurde eine Stelle als Vertreter von ORT (Gesellschaft für handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit) angeboten. Nach einem Jahr ohne Arbeit in Israel nahm Eli das Angebot gern an und kehrte 1996 nach Deutschland, und zwar nach Frankfurt, zurück. Sechseinhalb Jahre lang war Eli bei ORT tätig, 2002 wechselte er in die Unternehmensberatung und zog nach Freiburg um.

Elis Umzug nach Freiburg hat eine lange Vorgeschichte. Bereits 1990, als er sich in München aufhielt, war er auch für Freiburg zuständig. Damals erkundigte sich Eli danach, ob ein Gemeindemitglied den Jüdischen Nationalfonds in Freiburg vertreten möchte. So lernte er Sissi Walther kennen. Sie war keine Jüdin, aber sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zur jüdischen Gemeinde aufgebaut (ihr ist die Gedenktafel im Foyer der Freiburger Synagoge, die an die 1940 nach Gurs und dann nach Auschwitz deportierten Freiburger Juden erinnert, zu verdanken). Zusammen mit Sissi präsentierte Eli den Fonds und seine Aufgaben in der Gemeinde, und danach tranken sie bei ihr zuhause Kaffee. Bald wurde die Beziehung zwischen den beiden enger. Eli und Sissi trafen sich sonntags, und auf der Strecke Frankfurt-Freiburg-Frankfurt entstand zur Freude der Deutschen Bahn eine feste Verbindung.

Als Eli 1995 nach Israel zurückkehrte, beschloss Sissi, ihm zu folgen, und kaufte in Netanja eine Wohnung. Dort wohnten sie bis Mai 1996, als Eli wieder nach Deutschland eingeladen wurde. Sie kamen zusammen zurück: Sie ging nach Freiburg, er begab sich nach Frankfurt. Im Jahr 2002, nachdem die erste Ehefrau von Elli endlich die Scheidung einwilligte und alle vier Kinder von ihm ihre Zustimmung zu seiner zweiten Ehe gaben, feierten Eli und Sissi ihre Hochzeit in Chicago. Sie zogen zusammen in Freiburg, wo sie übrigens noch eine Hochzeit feierten (Sissi verstarb 2009).

Von dieser Zeit an ist Eli Mitglied der Freiburger Gemeinde. 2007–2008 wurde er in den Gemeindevorstand gewählt. Eli war eine Kadenz lang tätig und schöpfte dabei aus seinem reichen Schatz von Erfahrungen, die er während der Zusammenarbeit mit den jüdischen Organisationen gesammelt hatte. Nach zwei Jahren wurde er allerdings nicht neu gewählt. Darüber macht Eli unbekümmert einen Scherz: «Wieso denn? Ich komme ja aus Czernowitz, in meinem Pass steht» geboren in der UdSSR«, warum werde ich dann nicht als russischer Jude angesehen?» (eine Anspielung darauf, dass 2009 die Vorstandspositionen zum ersten Mal nur von den AuswandererInnen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken besetzt waren). Heute ist Eli nach wie vor ein aktives Gemeindemitglied.

2011 machten die Kinder und Enkel von Eli zu Ehren seines 70-jährigen Jubiläums aus ihren eigenen Notizen, den Zeichnungen der Enkel und alten Familienbildern ein virtuelles Buch und stellten es ins Internet ein. Es erzählt vom gesamten jüdischen Schicksal unseres Protagonisten.

…Auf einem der Bilder sehen wir Eli im Alter von sechs bis sieben Jahren. Die Eltern schickten ihn in einen Cheder in der Hauptstadt Budapest, damit er den Religionsunterricht erhielt. Sie hofften, dass der Sohn einen Jeschiwa-Abschluss in Palästina erlangt. Eli machte aber diese tugendhaften Pläne zunichte: Bald flüchtete er aus dem Bukarester Cheder – voll Schmutz, Wanzen und Kakerlaken – in die Bukowina zurück. Eli lächelt und scherzt wieder: «Mit sechs Jahren war ich schon clever genug, um zu kapieren, dass ich der Jeschiwa entfliehen sollte!»