Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

FILIPP MIHAILOWITSCH PIATOV:

EIN RUSSISCHER JUDE IN DEUTSCHLAND AUF DER SUCHE NACH SEINER IDENTITÄT

(LENINGRAD – BAD KROZINGEN – TEL AVIV – FRANKFURT AM MAIN – BERLIN)

 

 

Einjähriger Einwanderer

Filipp Piatov wurde 1991 in Leningrad geboren. Er ist Altersgenosse jener Emigration, die ihn – kaum einjährig – nach Deutschland verschlagen hatte, und zwar in den Kurort Bad Krozingen, unweit von Freiburg. Im Jahre 1992, auf dem Gipfel der jüdischen Ausreisewelle der Post-Perestrojka-Zeit, kamen seine Eltern hierher, zwei Wochen später folgten ihnen auch die Großeltern (seiner Großmutter, Sofia Moisejewna Piatova, ist ein besonderer Aufsatz in diesem Buch gewidmet).

Seine Eltern, Michail und Walerija, Leningrader Ingenieur und Geigenlehrerin, klammerten sich nicht an die Sozialhilfe, nahmen jede Arbeit an, wobei sie vorhatten, im Laufe der Zeit ihre Berufung und ihre Identität auch in der Fremde des Schwarzwaldes zu finden. Gutes Deutsch fehlte ihnen sehr: Ohne sich geschickt verständigen zu können, fühlten sie sich verloren, benahmen sich gehemmt und unbeholfen, und es kam oft vor, dass der Sohn die Rolle des Dolmetschers, wenn nicht gar des Vermittlers, übernehmen musste. Vater schaffte es mit der Zeit bis zur Anstellung als Manager in einem soliden deutschen Unternehmen, Mama blieb jedoch bei ihrem alten Beruf.

Filipp wuchs auf und erhielt seine Bildung in der Atmosphäre eines provinziellen deutschen Kurorts, die von der Mentalität her eher dörflich als städtisch geprägt war (natürlich sind damit nicht etwa Weiber mit Eimern vor den Wasserzapfsäulen oder WC-Anlagen auf dem Hof gemeint). Er war wahrscheinlich der erste Jude unter den Gymnasiasten in Bad Krozingen: Von Antisemitismus fehlte dort jede Spur. Seine Klassenkameraden, Kinder von Ärzten und Krankenschwestern, erzählten alle ihre Geschichten, und Filipps Geschichte, die er nicht verheimlichte, hob sich vor diesem Hintergrund deutlich ab.

Филип Пятов (2015) / Filip Piatov (2015)

Interessant und eher untypisches ist Folgendes: Filipp schämte sich nicht nur keineswegs dessen, dass er russischer Jude war (denn es gab in dieser Emigration auch solche jungen Damen, die vor Scham erröteten, wenn ihre Eltern sie in Gegenwart ihrer Mitschüler auf Russisch ansprachen und die Ärmsten dadurch zwangen, in diesem etwas grobschlächtigen Idiom auch noch zu antworten). Im Gegenteil, allen Erwartungen zum Trotz war er stolz darauf!.. Und das obwohl er Freiburger Synagoge nur einige Male besuchte und Russland, wie man es dreht und wendet, gar nicht gesehen hatte.

Es gab wohl irgendetwas in ihm selbst (und nicht im Fernsehen mit der Satellitenschüssel), was ihn dazu trieb, sich auch in die anderen Ecken des Dreiecks zu begeben. Nach dem Abitur folgte ein Jahr beim Freiwilligendienst in Tel Aviv, Arbeit mit jüdischen Senioren im Altersheim und ein ganzes Meer von Eindrücken und Beobachtungen über das jüdische Land und über sich selbst in diesem Land.

 

Vom Internetwelt zum Welt «Der Welt»

In den Schwarzwald kehrte er nicht mehr zurück. Er zog nach Frankfurt am Main, immatrikulierte sich an der Universität, an der Wirtschaftsfakultät. Hier stieß er nun auf den Antisemitismus, zwar nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern im Internet: In Blogs und Foren. Zunächst stürzte er sich in die verbalen Internet-Kämpfe, denn er konnte debattieren und liebte es, doch später verlor diese Beschäftigung jeglichen Reiz für ihn. Man diskutiert mit einer Person, die in der Regel wesentlich weniger als man selbst weiß und versteht, daher hört die Diskussion zusehends auf, spannend zu sein.

Und dann dachte Filipp: Wozu soll ich in dieser Form diskutieren? Wäre es nicht besser, über den Gegenstand der Diskussion einen Post oder einen Artikel zu verfassen, wobei man für den Sinn verantwortlich wäre anstatt bestrebt zu sein, den virtuellen Opponenten auf sein virtuelles Kreuz zu legen?

Das geschah bereits in der 12. Klasse des Gymnasiums, als Filipp 17 Jahre alt war. Eines Tages wurde Henryk M. Broder auf seine Posts aufmerksam, und seit 2011 begann er, Filipps Texte auf den Webseiten seines Portals «Achse des Guten» zu veröffentlichen.

Im Jahr 2013, als Putin Chodorkowski freiließ und dieser eine Presskonferenz in Berlin gab, schrieb Piatov darüber einen Artikel und schickte ihn spontan an die Zeitung «Die Welt», die ihn am gleichen Tag veröffentlichte!

Seit dieser Zeit schreibt Filipp Piatov für diese Zeitung, wobei er inzwischen dort freier Mitarbeiter geworden ist. Er hat sogar das schmeichelhafte Angebot erhalten, ins Angestelltenverhältnis zu wechseln und Redakteur zu werden, aber er lehnte ab. Er lehnte ab, weil er seit 2014, nach dem Ende seiner aktiven Studienzeit, ohnehin arbeitete, und zwar im jungen Berliner Unternehmen «Cookies», in dem er gleichzeitig als Aktionär und Mitarbeiter fungierte. Sein Unternehmen entwickelt Smartphone-Apps, die ihren Nutzern erlauben, sicher und praktisch Online-Banking zu betreiben. Interessant ist auch das Team an sich, in dem Filipp einer von 25 Mitarbeitern ist. Gegründet haben das Unternehmen zwei von ihnen: Ein Jude aus Russland und ein Araber aus Algerien, nicht schlecht, oder? Daher wundert es nicht weiter, dass der Sponsor dieses Startups ein Perser ist!

Im Übrigen ist Filipps Aufgabe nicht etwa im IT-Bereich angesiedelt, sondern durchaus geisteswissenschaftlich: Marketing und Public Relations, Gestaltung eines Images für das Unternehmen und Führung seiner Chronik, eine Art Verwandlung des zuweilen grauen Programmierer-Alltags vor dem Bildschirm in so etwas wie ein buntes und verdichtetes Happening, in eine bestimmte «Geschichte». Filipp stellte mir eine rhetorische Frage: «Warum soll man nicht eine gute Geschichte erzählen, ist es denn nicht das Spannendste, was es geben kann?» Und die Antwort auf diese Frage ist für ihn offensichtlich: Natürlich ist es das Spannendste (für mich klang indessen das Wort «gut» bedrohlich, denn eine «gute Geschichte» hat die Tendenz, zum Mythos zu degradieren).

In den Süden, nach Freiburg und Bad Krozingen zu kommen bleibt ihm keine Zeit. Der gesamte Freundeskreis von Filipp ist in Berlin ansässig: Das sind seine Arbeitskollegen sowie die Kollegen im journalistischen Betrieb. Im Journalismus interessieren ihn die Politik (nicht als Beruf, sondern als Betrachtungsgegenstand) und die Psychologie der Menschen.

 

Auf der Suche nach Identität

…Das Web-Portal von Broder, Arbeit in einer der wenigen überregionalen deutschen Zeitungen: Lauter Glücksfälle und scheinbar zufällige Volltreffer stießen gleichsam von sich aus auf Filipp Piatov und drängten ihn nach vorn. Stimmt alles, doch seine Erfolge sind keinesfalls reine Zufälle: Sie gediehen auf einem gut vorbereiteten Boden. Wären seine Texte nicht so interessant, so eigentümlich überraschend und gewinnend, wäre ihm das Glück nicht so hold.

Das betrifft im gleichen Maße auch Filipps nächsten vermeintlichen Glückstreffer: die Veröffentlichung seines Buchs. Nachdem Filipp einen Artikel über die Militäroperation der israelischen Streitkräfte «Gegossenes Blei» in seiner «Die Welt» gedruckt hatte, kam 2013 ein Literaturagent auf ihn zu und fragte, ob er nicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben.

Filipp war einverstanden und begab sich auf eine Reise durch ganz Russland, das sich über ganz Eurasien erstreckt, vom Baltikum bis Pazifik, über nicht weniger als 11 Zeitzonen! Der Text als solcher wurde in Berlin zusammengeschrieben, in der Stadt, die sein Opa 1945 befreite (aber auch der Oma konnte keiner den Schneid abkaufen, dem barfüßigen Partisanenmädchen!), in der Stadt, die für seinen Enkel zur Herzensheimat wurde. Eigentlich entstand sein Buch in den kleinen Berliner Cafés (etwa in «Anita Wronski» in Berlin-Mitte oder in «Zazza» in Kreuzberg).

Schließlich erschien 2014 im Berliner Verlag «dtv» ein 200 Seiten schweres Buch mit einem recht schwer übersetzbaren Titel «Russland meschugge». Die Gesichter von russischen Patrioten brauchen sich nicht zu verdüstern, denn Filipp schaut Russland durchaus mit Interesse an, mit Augen, die liebend und weinend zugleich sind.

Das ist ein Buch über die multiple Identität, die Filipp Piatov verlor und wiederfand: Deutscher, Russe, Jude oder, alles in einem, russischer Jude in Deutschland. Spannend ist, wie bereits der Titel des Buchs alle drei Facetten in sich vereint: die deutsche in der Sprache, die russische im Gegenstand und die jüdische im jiddischen Wörtchen des Titels.

Das Buch als Ganzes ist jedoch überdies noch ein Versuch, eine der Facetten seiner Identität für sich selbst zu klären, dabei handelt es sich um die am wenigsten vertraute und verständliche: um die russische. Geschrieben ist das Buch leicht, souverän und, was am wichtigsten ist, innerlich frei. Es enthält die Intention, den Zustand unterschiedlichster Menschen nachzuempfinden, ob es nun um deine Liebsten geht (wie die Eltern oder Großeltern), ob um die weniger vertraute oder um dich selbst mit deiner eigenen – geheimnisvollen – Persönlichkeit. Es ist witzig, aber im jüdischen oder russischen Umfeld kamen immer deutsche Züge zur Geltung, im deutschen dagegen russische oder jüdische.

Филип Пятов. Обложка книги Ф. Пятова / Umschlag des F.Piatov’s Buches

So kommt es zur Frage: Wenn man nun alles ist (dieses und jenes und drittes), ist das nicht dasselbe wie gar niemand zu sein? Kann ein Enkel zum Deutschen werden, wenn die Vorfahren eben dieser Deutschen seine Oma für tötungswürdig hielten und getötet hätten, wenn sie gewusst hätten, dass sie Jüdin ist? Kann ein Mensch zum Juden werden, dem dieses «jüdische Chaos», in dem er ein ganzes Jahr in Israel lebte, überhaupt nicht wesenseigen ist? Und kann jemand zum Russen werden, der so ganz und gar nicht begeistert von den Begriffen und Vorstellungen ist, die in Russland (und nicht nur im Kreml) herrschen, darunter vom russischen Freiheitsbegriff?..

Was nun? Ist es wohl so, dass der Jude, der sich als Russe in Deutschland wahrnimmt, gleichsam im gleichschenkligen Dreieck seiner eigenen Identität eingesperrt ist? Er prescht in eine der Ecken vor, kriegt da eins auf die Nase, was dann, in die anderen zwei Ecken drängen? Aber auch dort dasselbe: her mit deiner Nase, na bitte!..

Im Gegensatz zu den zwei weiteren Ländern ihrer Immigration – Israel und den USA – haben die russischen Juden in Deutschland in den 25 Jahren ihrer Anwesenheit in diesem Land niemanden aus ihrer Mitte in den ersten Reihen der deutschen Gesellschaft aufgestellt! Die Personen, die am meisten bekannt sind, sind wohl der Literat Wladimir Kaminer, der das Kapital seiner Berühmtheit klug und geschickt darauf aufbaut, dass er auf die Karte des halbpossenhaften russischen Akzents setzt, und Marina Weisband, die «Piratin», der zeitweise aufsteigende Stern am Firmament der deutschen Politik, die jedoch beizeiten aus dem Steigbügel ihrer sich zusehends marginalisierenden Partei ausgestiegen ist. Irgendwo in weiter Ferne wurden noch die Figuren von Sergey Lagodinsky, der regelmäßig seine politischen Lager wechselt, sowie von einigen Herausgebern russischsprachiger Presse gesichtet.

Nun denn, es scheint, dass die Stimme von Filipp Piatov in diesem zusammengewürfelten Chor nicht verloren gehen wird.