Еврейские судьбы: Двенадцать портретов на фоне еврейской иммиграции во Фрайбург

Полян Павел Маркович

ANNA IOSSIFOWNA RESNIK:

«NUR INITIALEN…»

(MINSK – АGRYS – KASAN – MOSKAU – FREIBURG – MÜNCHEN)

 

 

Minsk

Anna Iossifowna Resnik wurde 1917 in Minsk geboren und war die älteste Tochter der Familie. Zu diesem Zeitpunkt war schon die Grenze gezogen worden, und alle ihre Verwandten befanden sich von heute auf morgen «hinter dem Kordon», und zwar in Polen – in der Kleinstadt (heutzutage ist das ein Rayonzentrum) Iwenec im Gebiet Baranowitschi. Deswegen wurden sie ihr Leben lang weder von Opa noch von Oma begleitet. Die beiden Opas waren übrigens «Religionsdiener»: der eine war Schächter, der andere – Rabbiner.

Als der Vater die Mutter heiratete, wuchs die Familie noch um die Oma und um den taubstummen kleinen Bruder der Mutter, der später in Minsk umkam. Das war eine gute, einträchtige Familie. Anja war das älteste Kind, und sie hatte noch eine mittlere Schwester und einen jüngeren Bruder (die beiden sind nicht mehr am Leben).

Der Vater, ein gescheiterter Nepmann, wurde 1933 verhaftet, es wurde nach Gold gesucht: man hielt ihn 2 Monate lang im Gefängnis fest, dort steckte er sich mit Flecktyphus an und starb daran 2 Wochen nach seiner Entlassung aus der Haft. Anja war damals 16 Jahre alt.

Mama absolvierte das Gymnasium in Smolensk extern, sie reiste regelmäßig hin, um Prüfungen abzulegen. Sie war Russischlehrerin und eine sehr gebildete Person. Dann beendete sie einen Fröbelitschka-Kurse (Fröbelitschka nannte man vor der Revolution Kindergartenerzieherinnen – nach dem deutschen Pädagogen Fröbel) und war in einem Kindergarten tätig.

Anja absolvierte die Minsker juristische Hochschule mit Auszeichnung und fing 1939 an, am Institut des Justizministeriums in Moskau zu promovieren. Aber schnell musste sie darauf verzichten und nach Minsk zurückkehren: Die Mutter konnte die ganze Familie alleine nicht ernähren. 1941 wurde das Leben besser, und Anja ging wieder ans Institut. Sie war als Assistentin am Lehrstuhl für Strafrecht tätig, erteilte ihren Studenten praktischen Unterricht und legte sogar die ersten benötigten Doktorandenprüfung im Marxismus und im Strafverfahren ab.

Nach Annexion Ostpolens 1940 wurde es zum ersten Mal möglich, die Verwandten zu besuchen: Dafür brauchte sie lediglich nur Fahrkarte zu kaufen. 1941 besuchte Anja die Verwandten sogar zweimal: zuerst reiste sie nach Radaschkowitschi und dann nach Iwenec. Sie traf sich mit ihrer Tante, von der sie früher nichts wusste. Diese hatte schon eine große Familie: fünf Kinder und mehrere Enkelkinder. Denn seit 1917 wuchs schon eine ganze Generation auf! Anja lernte auch ihren Cousin und ihre Cousine kennen. Von der zweiten Reise ins Westliche Weißrussland kehrte sie erst am 11. Juni 1941 zurück.

Alle diese Verwandten kamen dann ums Leben: allein in Radaschkowitschi waren das 11 Personen! Nur der Cousin und die Cousine flohen aus der Stadt und retteten sich. Später arbeiteten sie in einem Kinderheim im Gebiet Iwanowo als Erzieher und Erzieherin.

Vor dem Krieg leitete Anjas Mutter ein Kindergarten in Minsk. Wegen dieser Tätigkeit hat sie eigentlich ihr Leben verloren.

So ist es passiert. 5 Tage vor dem Krieg brachte sie ihren Kindergarten ins Freie, auf eine Datscha in Ratomka, die nur 18 km von der Stadt entfernt lag. Das war ein großes Glück, denn nicht allen Kindergärten gelang das. Als sie am 23. Juni in die Stadt zurückkehrte, um Lebensmittel für die Kinder zu holen, erfuhr sie vom Kriegsbeginn. Am Abend kammen die Eltern von den Kindern, am 23. Juni war es noch ruhig in Minsk. Es wurde beschlossen, dass die Mutter nach Ratomka geht, um die Kinder abzuholen, aber es fuhren schon keine Züge mehr. Anna arrangierte ein Auto für die Mutter und zahlte dafür 100 Rubel, was damals eine Menge Geld war. Niemand weiß, ob die Mutter am Zielort ankam, aber sobald sich das Auto vom Haus entfernte, begann man Minsk zu bombardieren. Das war ein schrecklicher Angriff: Er dauerte ununterbrochen von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends. Alle standen da und warteten: Wen trifft die Bombe?..

 

Tatarien

Am Abend, als die Bombardierung vorbei war, brannte die ganze Stadt! Dann begab sich Anna mit der jüngeren Schwester und dem Bruder zur Mutter nach Ratomka – und zwar zu Fuß. Sie übernachteten im Wald nahe der Stadt. Am Morgen gingen sie auf die Straße, aber sie war durch die zurückziehenden Truppen verstopft, die hautnah aneinander schritten, so dass es unmöglich war, sich durch diese dichte Menschenmasse durchzukämpfen. Die Geschwister mussten umkehren, sich von diesem Strom blind mitreißen lassen und darauf hoffen, dass der Kindergarten doch in Sicherheit gebracht worden war – wie kann man sich ja etwas anderes vorstellen? (Was in Wirklichkeit mit dem Kindergarten und mit der Annas Mutter geschehen war, blieb bis heute ungeklärt).

Drei Wochen lang bewegten sich zwei Schwestern und der Bruder durch Weißrussland gen Osten – in den Stöckelschuhen, ohne Lebensmittel, ohne Kleidung, nur mit einer kleinen Damen-Aktentasche mit Fotos, Papieren und einem halben Kilo Streuzucker.

Den Zucker lösten sie im Wasser und tranken die Lösung. Sie hatten weder Essen noch Geld. Es gab keine organisierten Mahlzeiten, sie legten Feuer an, kochten etwas – eine Suppe. Bei einer solchen Suppe holte sich der Bruder eine Lebensmittelvergiftung und musste den Weg mit dem Fieber von 40ºC weitergehen. Mal reichte man ihnen eine Tasse Milch, mal noch was: die Menschen hatten Mitleid mit zerlumpten Flüchtlingen. Sie schliefen in einer Reihe hingestreckt, auf der bloßen Erde. Es ist unbegreiflich, wie sie diese drei Wochen überstanden und überlebt haben!

Bei solchen Umständen erreichten sie am 13. Juli die Stadt Roslawl im Gebiet Smolensk. Von dort gelangten sie auf Flachwagen mit Kohlen zum Evakuierungspunkt in Mitschurinsk, wo sie als Evakuierte angemeldet wurden. Sie wurden nach Kasan gesendet und kamen dort erst im August an.

Ihr Juristin-Diplom hatte Anna in ihrer Aktentasche mitdabei. Damit wurde sie bei der Staatsanwaltschaft der Tatarischen Republik angestellt und bekam eine Stelle als Assistentin eines Rayon-Staatsanwaltes zugewiesen. Zwei lange Jahre arbeitete sie in der Stadt Аgrys an der Transsibirischen Eisenbahn.

Анна Резник с мужем Федором / Anna Resnik mit ihrem Mann Fedor (1946)

Seit ihrem ersten Lebenstag wusste Anna, dass sie Jüdin war. Als sie ca. sieben Jahre alt war, stellten ihre Eltern einen Lehrer für sie ein, mit dem sie ein Jahr lang Hebräisch lernte. Dann wanderte der Lehrer nach Palästina aus (wie es damals hieß), und der Unterricht hörte auf.

Mit Antisemitismus wurde sie zum ersten Mal konfrontiert, als sie evakuiert war (in Minsk gab es keinen Antisemitismus – weder in der Schule noch an der Hochschule). Es ereignete sich zum Beispiel Folgendes.

Anna war bereits als Assistentin des Staatsanwaltes tätig und brauchte eine Wohnung. Eine Tatarin, bei der sie ein Zimmer mieten wollte, empfing sie mit offenen Armen – in ihren Augen war ja Anna eine große Chefin. Dann sagte sie aber: «Es kamen einmal evakuierte Juden, aber ich ließ sie bei mir nicht wohnen». – «Ach so? Dann werde ich bei Ihnen auch nicht wohnen: Ich bin auch Jüdin». Diese einfältige und ungebildete Tatarin, die nie in ihrem Leben Juden gesehen hatte, war nichtsdestotrotz so eingestellt.

Der Chef von Anna, der Bezirks-Staatsanwalt, war auch ein Tatar. Der Ermittlungsführer und der Richter waren auch Tataren. Jedoch spürte Anna keinen Antisemitismus seitens der Kollegen.

Dann kam der neue Staatsanwalt der Republik und wählte für sich vier Juristen, um den ausschließlich aus Tataren bestehenden Zentralapparat zu stärken. Er stammte aus der Ukraine und brauchte den russischsprachigen Apparat und fachkundige Juristen. Er wählte vier junge Frauen, unter ihnen auch Anna. So fand sie sich 1943 in Kasan, im Zentralapparat der tatarischen Staatsanwaltschaft.

In Kasan war Anna zuerst als Staatsanwältin der Ermittlungsabteilung tätig (Arbeit im Apparat). Dann wurde ihr ein gesondertes Arbeitsgebiet zugeteilt – Staatsanwältin für Minderjährige: in den Fokus der Staatsanwaltschaft trat der Zustand der Jugendkolonien u. ä.

Анна Резник (2010-е) / Anna Resnik (2010er)

Vom Holocaust wusste man nahezu nichts. Man wusste allerdings, dass Ghettos geschaffen wurden und Juden «Gelbe Sterne» tragen mussten. 1943 hoffte Anna immer noch, Mamas Kindergarten aufzufinden, sie hoffte, er wäre evakuiert worden (manche Unternehmen und Anstalten waren ja evakuiert worden!).

Nach der Befreiung von Minsk im Jahr 1944 schrieben Anna und ihre Schwester mehrere Anfragen. Und von irgendjemand kam eine Postkarte, auf der es stand, dass ihre Mutter zusammen mit anderen Alten in einer Scheune verbrannt wurde. Nach dem Krieg ging Anna hin, besuchte mehrere Gräber. Aber sie erfuhr nichts Näheres.

Sie kam mehrmals nach Minsk, einmal reisten die Geschwister zu dritt. Ihr Haus in Minsk blieb verschont, sie versuchten es, dort einige Male reinzukommen, es zu betreten, aber die neuen Bewohner ließen sie nicht rein.

 

Moskau

1945 heiratete Anna – jetzt schon Anna Iossifowna – einen Moskauer und lebte in der Hauptstadt ihr ganzes Leben lang bis sie nach Deutschland kam. Ihren künftigen Ehemann lernte sie in Moskau kennen, wo sie bei einer Konferenz der Unionsstaatsanwaltschaft für Minderjährige Vorträge zu fünf Tagesordnungspunkten hielt.

Sie und ihr Mann hatten ein gleiches Unglück – seine Mutter kam auch in Minsk ums Leben. Er absolvierte das Luftfahrthochschule und war am Forschungsinstitut 17 tätig, nahm an der Gründung dieses Instituts teil und leitete die Informationsabteilung daran. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Literatur, studierte ein Jahr lang am Literaturinstitut, war eine sehr interessante Person und ein fähiger Köpf. Er starb im Jahre 1984 im Alter von 70 Jahren.

Es war nicht so einfach für Anna, nach Moskau umzuziehen. Nach dem Gesetz, war es ihrem Arbeitgeber möglich, ihr Arbeitsverhältnis nicht zu kündigen, und für das eigenmächtige Verlassen des Arbeitsplatzes konnte sie sogar vor Gericht gestellt werden. Sie löste dieses Problem ganz einfach: Sie ließ den Staatsanwalt Tatariens, den Russen namens Sadownitschi, spüren, dass er ein Antisemit war.

Nach ihrer Erzählung über die schwere Evakuierung, die sie überlebte, zog er ein schiefes Gesicht und meinte: «Was, sind Sie geflohen?» Und da ließ sich Anna hinreißen und sagte entschieden: «Hätte es aber jemanden interessiert, ob noch eine Jüdin ums Leben gekommen wäre?»

Er unterzeichnete sofort ihren Kündigungsantrag, obwohl es in seinen Händen lag, nicht zu kündigen – in Sachen Minderjährige gab es noch eine Menge Arbeit zu erledigen. Und 1946 wurde die tatarische Staatsanwaltschaft einem totalen Pogrom ausgesetzt: beinahe alle im Apparat tätigen Juden wurden entlassen.

Обложка книги А.И. Резник / Umschlag des Buches von A.I. Resnik (2012)

Die Schwester zog nach Omsk, der Bruder wurde in Lemberg sesshaft, und Anna Iossifowna siedelte nach Moskau um. Dort lief sie noch einem Antisemiten – dem Staatsanwalt des Gebiets Moskau – in die Arme. Bei der Arbeitssuche in Moskau wurde sie von ihrer ehemaligen Chefin – Faina Jakowlewna Fajbischewskaja, der Leiterin des Referats Minderjährige der republikanischen Staatsanwaltschaft – protegiert. Diese äußerst intelligente ältere Frau rief den Staatsanwalt des Gebiets Moskau an und schlug die Kandidatur von Anna vor. «Wie heißt sie mit Nachnamen?», fragte der Herr am anderen Ende der Leitung. «Resnik» (dieser Nachname lässt aber nicht auf die Herkunft seiner Trägerin schließen). Dann fragt der Staatsanwalt: «Wie lautet ihr Vor– und Vatersname?» Frau Fajbischewskaja guckte auf ihre Protegée und meinte mit einem Lächeln: «Sehen Sie, ich kenne nur die Initialen davon».

Und er brauchte dringend Personal! Das war eine Kärrnerarbeit schlechthin – Staatsanwältin der Straf– und Gerichtsabteilung. Sie musste vor dem Gebietsgericht Gutachten in allen Sachen erstatten, aber auch in die Staatsanwaltschaft kommen und dort Berichte erstatten – und dabei absolut in allen Sachen, über die das Kassationsgericht verhandelte!

Kurz und gut arbeitete Anna Iossifowna dort rund ein Jahr lang, ging in Karenz, brachte einen Sohn zur Welt und ging nie wieder dorthin zurück. Nach zwei Jahren trat sie ins Moskauer Rechtsanwaltskollegium ein. Von 1948 bis 1996 – fast 50 Jahre lang! – war sie in diesem Kollegium tätig, und zwar immer in derselben Beratungsstelle. Sie führte sowohl Straf-, als auch Zivilsachen und wurde mehrmals bis zur stellvertretenden Leiterin befördert. Nahezu 30 Jahre lang war sie eines der «Arbeitstiere» im Kollegium. Die Gesamtdauer ihrer Berufstätigkeit beträgt ca. 60 Jahre!

 

Freiburg

Es wurde aber Zeit auszuwandern. Sie fuhren am 22. Mai 1996 weg, und noch am 16. Mai wurde das Urteil in einer der von Anna Iossifowna geführten Sachen verkündet! Sie war damals knapp 80 Jahre alt!

Zuerst lebte die Familie in Freiburg, jetzt sind sie in München sesshaft.

Psychologisch war es sehr schwierig, nach allen Verlusten (Mutter, fast alle Verwandten) nach Deutschland zu kommen. Aber die Art und Weise, wie die Deutschen die Juden aus der ehemaligen UdSSR empfingen, imponiert ihr sehr – genauso wie die Haltung der Deutschen zum Holocaust. Während der in Deutschland verbrachten Zeit stieß sie nie auf den Antisemitismus.

Der Enkelsohn und die Enkeltochter absolvierten Unis in der BRD, die beiden sind promovierte Wissenschaftler und begabte Menschen. Obwohl der Sohn in Moskau blieb, besucht er sie häufig. Er ist Verleger und kommt daher häufig zur Frankfurter Buchmesse.

2012 schrieb Anna Iossifowna ein Buch über ihr Leben – nicht für jedermann, sondern für den nahen Kreis, vor allem für ihre Familie.

Am 13. Februar 2016 feierte sie ihren 99. Geburtstag!